Hamburg. Die Elbphilharmonie bespielt fünf Wochen lang das Thema „Zukunft“ und gratuliert dem Komponisten Pierre Boulez zum 100. Geburtstag. So sieht das Programm aus.
- Das Musikfest-Programm bringt viele internationale Stars und große Orchester in die Elbphilharmonie
- NDR-Chefdirigent Alan Gilbert dirigiert Bergs Oper „Wozzeck“
- Der Vorverkauf für die Karten läuft
„Die gesamte Kunst der Vergangenheit muss zerstört werden.“ Ein typischer O-Ton von Pierre Boulez 1971, eines seiner vielen rasierklingenscharf formulierten Bonmots, mit dem er gegen halbe Sachen und Feiglinge anwetterte. Dass der französische Komponist und Dirigent die Kompositionsmethode des Serialismus, die wirklich nichts zum fröhlichen Mitsummen ist, für die einzig mögliche Musikentwicklung der Zukunft hielt, hat er später komplett verworfen. Um noch später, genauso energisch, andere Gegenteile zu behaupten.
Im März 2025 steht der 100. Geburtstag des strengen, 2016 gestorbenen Visionärs an, der gern Revolten in der zeitgenössischen Ästhetik der Musik angezettelt hatte – ein guter Anlass, um das am 1. Mai beginnende Internationale Musikfest in der Elbphilharmonie seinem Blick auf die Musik und dem mühelos sehr weit auslegbaren Oberthema „Zukunft“ zu widmen. Sieben Schwergewichte aus dem Boulez-Werkkatalog wurden dort gebündelt, zwei weitere folgen nach dem Musikfest-Ende.
Musikfest 2025 in der Elbphilharmonie: In die Zukunft und zurück
Der Tradition dieser fünften Jahreszeit im Hamburger Musik-Kalender folgend, ist ein Großteil des fünfwöchigen Pensums mehr oder weniger „normales“, reguläres Sortiment der Abo-Reihen und der Gastspiel-Termine. Die örtlichen Orchester spielen in ihren Reihen, was sie möchten – die prominenten Gäste auf der Durchreise oft tunlichst das, was gekonnt und repräsentativ ist.
Ausnahme von dieser Regel ist der Auftakt, den immer eines der hiesigen großen Orchester übernimmt: Im nächsten Jahr ist es das Philharmonische Staatsorchester mit Generalmusikdirektor Kent Nagano, der etliche Jahre nach einer ersten Aufführung im Michel erneut Boulez‘ Hauptwerk „Répons“ dirigieren wird. Eines jener Stücke, die mit ihren Anforderungen (Live-Elektronik, im Raum verteiltes musikalisches Geschehen) viel natürlicher in den Großen Saal passen als in den altehrwürdigen Kirchenraum im anderen Wahrzeichen.
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Der zentral verankerte Boulez-Schwerpunkt hat durchaus einiges an Gewicht und Umfang, und er ist auch nicht frei von Mut zum Risiko. Da wären zunächst die Boulez-Beiträge der Auswärts-Spitzenorchester: Das London Symphony kommt mit Sir Antonio Pappano; das BR-Sinfonieorchester spielt unter Leitung von Sir Simon Rattle. Sogar die Wiener Philharmoniker, ansonsten nicht für größere Avantgarde-Leidenschaft bekannt, spielen Boulez, Kleineres allerdings.
Großer Brocken und „ein Superfetzer“, so Generalintendant Christoph Lieben-Seutter, sei dort das Klavierkonzert von Thomas Adès, das Adès dirigiert und Igor Levit spielt. Und alle drei kontrastieren diese Stücke nicht orthodox mit Stockhausen oder Berio, sondern schockmildernd mit populäreren Klassikern: Berlioz, Haydn oder Ravel.
Das nähere Boulez-Umfeld wird mit einem „Music and Dance“-Klavierabend durch Bertrand Chamayou beleuchtet, der einige Werke von John Cage vorstellt, bei einem Abend des „neuen werks“ erhalten mit dem „Gesang der Jünglinge“ und zwei Klavierstücken frühe, epochale Meisterwerke von Stockhausen ihre Bühne im Kleinen Saal.
Seit dem legendären Eklat in den Eröffnungstagen, als sich Über-Maestro Riccardo Muti über die Akustik der Elbphilharmonie echauffiert und erbost auf Nimmerwiederkommen verabschiedet hatte, war das Chicago Symphony nicht mehr nach Hamburg gekommen. Das Comeback – noch ohne den Nachfolger Klaus Mäkelä, sondern mit Jaap van Zweden als Lückenfüller – mit Mahler 6 und 7 beendet die Auszeit. Lieben-Seutter bedient neben der konzeptbedingten Mischung aber auch einige eigene Präferenzen, beispielsweise mit der Wieder-Einladung des Budapest Festival Orchestras unter Ivan Fischer, mit Mahler 2.
Kein Musikfest ohne konzertante Opern: 2025 geht es mit „Iphigénie en Tauride“ zurück aus der Zukunft ins späte 18. Jahrhundert, zum Opernreformer Gluck, den Thomas Hengelbrock stilsicher befragen will. Und mit Bergs „Wozzeck“, dirigiert von NDR-Chefdirigent Alan Gilbert und mit Matthias Goerne in der Titelrolle, voran ins frühe 20. Jahrhundert. Damit ist man historisch nicht allzu weit entfernt von einem sehr speziellen Klavierabend mit Lukas Geniuas, der Beispielhaftes von russischen Futuristen wie Skrjabin oder Lourié mit gängigeren Größen wie Schostakowitsch und Strawinsky kombiniert.
Jazz darf beim Blick ins Zukünftige nicht fehlen. Sun Ras spacige Erbstücke wären dafür schön gewesen, doch mit dem „Art Ensemble of Chicago“ und dem Programm „Great Black Music – Ancient to the Future“ sind andere, ähnlich radikale Free-Jazz-Klassiker zu erleben.
Über 40 Jahre alt und nach wie vor zukunftsweisend ist Godfrey Reggios Warnung vor wuchernden Auswüchsen der Zivilisation in seinem bildstarken Film „Koyaanisqatsi“ mit der Musik von Philip Glass, die im Großen Saal live gemeinsam aufgeführt werden. Als „Experimentalstrecke“ ins Programm eingefädelt sind Konzerte mit einem verkabelten Cyborg-Pianisten, einem „Weltraum-Oratorium für KI-Sprachklone und 3-D-Sound“, dem Decoder Ensemble mit Werken aus dem Chip und einer experimentellen Oper von Eva Reiter, bei der die Bewegungen der Mitwirkenden in Klänge umgerechnet werden. Die Zukunft kann also kommen.
Weitere Infos und Karten unter www.elbphilharmonie.de.
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