Hamburg. Andreas Kriegenburg inszeniert Webers Publikumsliebling „Der Freischütz“ an der Staatsoper und hinterfragt dabei auch sehr deutsche Themen.
Den Rahmen für Carl Maria von Webers „Freischütz“ könnte man auch so aufspannen: Eine streng hierarchisch durchsortierte, schwer religiöse Dorfgemeinschaft, in einer Nachkriegszeit lebend, mit archaischen Regeln, wer wen wann warum heiraten darf – oder dann eben nicht. Es gibt Männer mit Versagensängsten und Spaß an Waffen und dem Töten von Tieren, und es gibt Frauen, die brav den traditionellen Bund der Ehe besingen. So gesehen: prima Stoff für ein AfD-Musical.
An diesem Sonntag hat die von Yoel Gamzou dirigierte Neuinszenierung der angeblich deutschen Nationaloper schlechthin an der Staatsoper Premiere, und Regisseur Andreas Kriegenburg sieht das mit dem AfD-Plot natürlich ganz anders. „Das ist schon eine sehr weitgehende Auslegung“, kontert er diese Lesart. „Wenn man den „Freischütz“ macht, ist man ja sehr schnell dabei, sich mit dem deutschen Wesen und auch den Untiefen des deutschen Wesens und den Gefährdungen zu beschäftigen und damit konfrontiert zu werden, zumal es eben auch um die Dynamik von Gruppen geht. Natürlich klingeln da bei uns ganz dunkle Glocken. Das ist der Oper gegenüber aber auch etwas ungerecht.“
Hamburger Staatsoper: Der neue „Freischütz“: Volltreffer oder Fehlschuss?
Gegen das Tümel-Aroma, das dieses Stück umwabert wie Sonntagsbratenduft den Jägerzaun, hat Kriegenburg ein Gegenmittel eingebaut: „Wir versuchen, auch zu unserem Vergnügen, mit den Klischees deutscher Gemütlichkeit und deutscher Schützenvereine komödiantisch und vorsichtig überzeichnend umzugehen.“
Vom Entrümpelungs-Dirigenten Nikolaus Harnoncourt ist ein schönes Bonmot zum „Freischütz“ überliefert, das auf die musikalische Eingängigkeit abzielt: „Wer Ohrwürmer komponiert, muss auch die Folgen tragen.“ Auch deswegen also kein frontaler 1:1-Realismus, bei dem alle mal mehr, mal weniger singend im Wald stehen, sondern sanfte Verfremdung. Bei Kostümen und Masken bediene er sich bei der Ästhetik der frühen 1920er, „Das Kabinett des Dr. Caligari“ oder „Metropolis“ sollen grüßen lassen. Sehr expressive Masken, um nicht den Alltag abzubilden, sondern „eine allegorische, exemplarische Geschichte“.
Ein schlichtes Unterhaltungsstück? Das kann Kriegenburg nicht nachvollziehen
Und was ist mit der gängigen Meinung, ähnlich wie Mozarts – ungeheuer komplexe „Zauberflöte“ – sei auch Webers „Freischütz“ eigentlich ein total einfaches, schlichtes Stück Unterhaltung? Kann Kriegenburg nicht nachvollziehen und berichtet von der Probenarbeit für seine Perspektive: „Das war für die Sänger ein Erlebnis, selbst für Sänger und Sängerinnen, die es schon in verschiedenen Inszenierungen gesungen haben – sie waren überrascht, wie böse die Oper ist, wie dunkel, wie grausam. Das wird oft unterschätzt.“ Auch anschließend vom Publikum: „Ich sage es mal vorsichtig: Man erwartet nicht, vom Freischütz belästigt zu werden.“
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Als Schauspielregisseur, der er von Haus aus ist (u. a. langjähriger Oberspielleiter und Quasi-Hausregisseur am Thalia), hat Kriegenburg ein besonderes Verhältnis zu den Prosatexten, den gesprochenen Passagen, in denen erzählt und erklärt wird und in denen es in Webers Libretto mitunter arg betulich rumpelt. Oft werden diese Stellen gekürzt, verändert, modernisiert. „Wir nehmen einfach das, was an Material da ist“, sagt Kriegenburg. „Wir nehmen das ernst und versuchen es so auf die Bühne zu bringen, dass die Figuren plastisch werden. Dass es nicht eine lästige Behinderung des Opernablaufs ist, sondern dass sich darüber tatsächlich die Figuren erzählen.“ Originaltexte also, wie gedacht.
Was in der Konsequenz auch bedeutet, dass Kriegenburg auch die Prolog-Szene mit dem Eremiten wieder ins Stück lässt. Die hatte Weber während der Arbeit an der Oper verworfen, weil sie seiner Frau so gar nicht gefielen. Seitdem taucht der Alte als Happy-End-Einfädler erst kurz vor knapp und sehr unvermittelt am Ende auf. „Das braucht es unbedingt“, betont Kriegenburg die Rückkehr des hier bildlich geregelten Vorspiels, „weil es nicht nur den Bogen für den Eremiten schließt, sondern man dann auch versteht, warum Agathe so tief verunsichert ist.“ Und auch eine weitere zentrale Nebenrolle ist aufgewertet: Samiel, das Gift aus der Hölle, hat zwar praktisch nichts zu sagen, „ist bei uns aber eine zentrale Figur, die fast durchgängig auf der Bühne ist, weil man so permanent so die Bedrohung des lustvoll Bösen spüren soll.“
„Der Freischütz“: Zweiter Anlauf, mit einem im Kern gleich gebliebenen Konzept
„Ich bin ein bisschen durch Nichtwissen geschützt“, sagt Kriegenburg, ohne falsche Koketterie, zu dem Problem, dass man als „Freischütz“-Regisseur eigentlich nur einen Einfluss darauf haben könne, wie drastisch man an diesem Auftrag scheitere. „Über den Erwartungsdruck, die Bedeutung werde ich mir quasi erst nach einer Zusage bewusst. Natürlich überkommt jeden, der einem ,Freischütz‘ zusagt, irgendwann die Panik: Wie bewältige ich das Deutsch-Tümmelnde, wie bewältige ich die Wolfsschlucht? Wie nah kommt man an das beabsichtigte Erlebnis? Wie weit schafft man es, von der Peinlichkeit der Styropor-Felsen-Romantik wegzukommen?“
Diese Zusage hatte Kriegenburg bereits für einen Premierentermin 2019 gegeben. Corona erlegte diese Absicht. Nun also zweiter Anlauf, mit einem im Kern gleich gebliebenen Konzept. Wegen der neuen Besetzung habe er das Kostümbild, den visuellen Kern der Aufführung verändert, sagt er. Aber der Grundzug, die Bühne und der Erzählansatz für die Figuren, das alles sei so geblieben. Als „visueller Regisseur“ freue er sich auf die Eingangsszene, „als Schauspielregisseur habe ich mich tatsächlich am meisten auf die Dialoge gefreut“.
Hamburger Staatsoper: Die Beliebtheit des „Freischütz“ wirft einige Fragen auf
Bleibt nur noch ein wunder Punkt zur Behandlung übrig: Ob es verdient und okay ist, dass „wir“ ausgerechnet diese Wald-Jäger-Schützenfest-Oper als Nationaloper haben. „Ich finde die Frage, ob das okay ist, missgeleitet. Weil es nun mal so ist. Das war nicht Webers Absicht, das ist so entstanden. Man kann genauso gut fragen, warum werden die ,Nibelungen‘, ein unglaublich düsteres, grausames Stück Literatur, als Nationaldrama gewertet oder wahrgenommen? Warum haben die Deutschen auf der einen Seite die große Lust an der Ordnung, am Gefügtsein, an der Reibungslosigkeit? Und auf der anderen Seite aber diese unglaubliche Sehnsucht nach Chaos, nach Auslöschung, nach Zerstörung, nach Störung, nach Unordnung?“ Womit man, tatsächlich, fast schon wieder bei der Möglichkeit eines AfD-Musicals wäre.
„Freischütz“-Premiere am 17.11. Staatsoper. Weitere Vorstellungen: 20./23./27./29.11, 3./5.12. Einspielungen: René Jacobs, Freiburger Barockorchester (harmonia mundi, 2 CDs, ca. 27 Euro). Carlos Kleiber, Staatskapelle Dresden (DG, 2 CDs, ca. 40 Euro).
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