Hamburg. Gerade war Víkingur Ólafsson im Großen Saal vierhändig mit Yuja Wang zu hören. Nun als Klavierkonzert-Solist mit dem London Philharmonic.
Wenn ein Konzert so trübe und einschläfernd beginnt wie der erste der zwei Elbphilharmonie-Abende des London Philharmonic (LPO), müsste der später auftretende Solist mindestens das Rad neu erfinden, damit die Gesamt-Schlussbilanz doch noch positiv ausfallen könnte. Das tat der Pianist Víkingur Ólafsson mit seinem Brahms aber nicht – dieser Abend begann uninteressant und blieb letztlich deutlich zweigeteilt.
Woran es lag? Tania Leóns „Raices“, eine LPO-Auftragskomposition, eines jener Stücke für Programm-Auftakte, die Orchester pflichtschuldig bei Auslandstourneen versenden, erfüllte anfangs alle Klischee-Vorstellungen, die man von unnötiger Avantgarde haben könnte: schrecklich egale Musik, von der am Folgetag nichts mehr erinnerlich war. Außer dieser bleiernen Langeweile, weil neben gefälligem Wabern und vagen Anspielungen auf lateinamerikanische Rhythmen so rein gar nichts Interessantes passiert, das aber eine stundenlange Viertelstunde lang. Edward Gardner dirigierte vor sich hin, das Orchester, körperlich anwesend, schob Dienst, als würde man auf den Bus zur Arbeit warten.
Elbphilharmonie Hamburg: Achtsames Brahmsen mit Víkingur Ólafsson
Spannender, lebendiger, interessanter wurde es also erst mit Bartóks „Der wunderbare Mandarin“-Suite. Eine fast 100 Jahre alte, immer noch taufrische Frechheit, die einen frontal anspringt; die direkt, mit einem fetten Schlagring aus grellen Akzenten und gemeinen Klangattacken, auf den Solarplexus des Publikums eindrischt. Eine großartige Zumutung, die – im scharfen Widerspruch zu ihrem lieblich exotischen Titel – hässlich und gallig sein will und muss, als rigoros vertontes Tötungsdelikt im dreckigen Untenrum einer Großstadt angesiedelt. Gardner und das LPO ließen dafür alle britische Zurückhaltung sausen und lieferten genüsslich und lautstark ab, was die Partitur verlangte.
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Damit stand es zur Pause unentschieden. Schade nur, dass es auch nach der Pause so weiterging. Víkingur Ólafsson, als ebenso gutherziger wie introspektiver Grübler bekannt, mit Brahms‘ fest zupackendem, über weite Strecken polternd auftrumpfendem 1. Klavierkonzert? Theoretisch eine fast so kontraststarke, überraschende Kombination wie sein vierhändiger Auftritt, vor zwei Wochen erst, mit der Überschall-Pianistin Yuja Wang. Doch dieser Brahms und dieser Pianist, das sind praktisch, im Rampenlicht, noch zwei Welten, die sich nur stellenweise kurz und sanft berührten.
Schon im Eingang des Kopfsatzes zeichnete sich ab, dass Ólafsson lieber behutsam nacherzählen statt aus eigenem Antrieb überwältigen wollte; immer wieder setzte er kleine Temporückungen als Stopper ein, um den Melodiefluss zu portionieren, anstatt es von ganzem Herzen, mit vollem Risiko strömen und rauschen zu lassen.
Achtsames Brahmsen war das Ergebnis, halbtoll halt. Im herzerwärmend sanften Adagio war dieser Ansatz allerdings ganz hinreißend wirkungstoll, auch weil Ólafsson dem gerade mal normschönen Holzsatz des Orchesters vorspielte, wie diese Passagen klingen können, wenn man sie richtig umarmt.
Das Finale geriet als Mittelweg, als ausbaufähiger Ansatz, eine Zwischenstation zu einem Brahms, der – zumindest bislang – noch nicht zum Interpreten-Charakter dieses Pianisten passen mag. Dass zwei Bach-Bearbeitungen, Ólafsson-Heimspiele ohne Wenns und Abers, als Zugaben folgten, war bezeichnend.
Nächstes Konzert des London Philharmonic: 13.11. 20 Uhr. Werke von Wagner, Schumann und Beethoven. Edward Gardner (Dirigent), Pablo Ferrández (Cello). Restkarten. Aktuelle Einspielung: „Continuum“ Werke von J. S. Bach (DG, LP, ca. 33 Euro) Nächste Ólafsson-Termine: 15.3. mit dem Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi und dem 2. Brahms-Klavierkonzert, 16.3. mit einem neuen Werk für Klavier und Orchester von John Adams. Elbphilharmonie, Gr. Saal.
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