Hamburg. Ebenso sensationell wie anstrengend: Alexandre Kantorows Recital in der Elbphilharmonie zeigte, wie herausragend dieser Pianist ist.

Er kann tatsächlich noch, immer noch, kaum zu glauben. Am Fast-Ende eines kompromisslosen Klavierabends im Großen Saal der Elbphilharmonie, der mehr als zwei Stunden lang wirklich nichts für schwache Pianistennerven oder ein konditionsschwächelndes Publikum war, legte Alexandre Kantorow zum ersten Mal das Noten-iPad auf den Flügel. Als kleine Hilfestellung. Um sich ein weiteres Mal zu schinden, als sollte dieses Programm unbedingt das Gegenstück zu einem Ironman-Wettbewerb mit ordentlich Blei in den Beinen sein.

Denn anstatt etwas Kleines, Handliches, womöglich sogar Harmloses zu spielen, zum Runterkommen, zum Abklingen, musste es zum Ende noch der „Liebestod“ aus Wagners „Tristan und Isolde“ sein, von Liszt auf nur zehn Finger komprimiert. „Ertrinken, versinken, unbewusst, höchste Lust!“, diese Liga, kleiner hatte Kantorow es hier nicht. Da wollte es einer aber unbedingt wissen und zeigen, was er kann und was er will; mit einem Programm, in das die Sonne nie länger wärmend hineinschien, das abgedunkelt war, vergrübelt und oft über den Rand von aufbrechenden Verzweiflungen hinaus. Wie weit er schon ist, wie eigen er ist, wie sehr bei sich. Warum er in dieser Saison als „Fokus-Künstler“ für fünf Termine in der Elbphilharmonie gebucht wurde. Und vor allem: wie außerordentlich, geradezu furchterregend gut er ist. Mit 27.

Kantorow in der Elbphilharmonie: Genügend Noten für zwei Klavierabende

Mit einem Erdbeben beginnen und sich danach steigern, nach dieser legendären Hollywood-Regel hatte Kantorow sein Recital angelegt. Brahms‘ h-Moll-Rhapsodie, mit seinem selbstbewusst markig hineinbehaupteten Eingangsmotiv, aus dem sich eine erste von vielen Welten dieses Abends entwickelt, war ein erstes Beweisstück für seine interpretatorischen Stärken: Ausdauer. Geduld. Einen stabilen Ruhepuls beim Ausformulieren, der nicht trudelt, bloß weil es pianistisch perfide schwer wird. Das wird schon, diese Musik braucht Zeit, ich nehme sie mir. Und gebe sie ihr.

Nur eine Hürde wäre ja praktisch keine Hürde, also folgten gleich zwei: Liszts „Chasse neige“ und „Vallée d’Obermann“, zwei dieser vielen eremitenhaft verkapselten Stücke aus großen Zyklen, in denen Innenleben und Weltfremdeln ineinander aufgehen. Musik, die so verschroben klingt, wie sich später Hölderlin liest. Kantorow versank herztief in diesem Schneetreiben aus Tönen, suchte in der Einsamkeit der romantisch überhöhten Naturbeschreibung nach Sinn, nach Antworten und Wahrheiten. Dabei schaffte er es immer wieder, zugleich ein offenbar alles bezwingender Virtuose und gleichzeitig ein in den Bann ziehender Geschichtenerzähler zu sein.

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Aus diesen Einsiedeleien in Bartóks 1. Rhapsodie überzugehen, die sich Liszts beidhändiger Bravour noch verpflichtet fühlt, aber auch eigene Klangfarben zeichnet, das war eine extrem mutige Abbiegung ins Abseitige. Aber letztlich auch nur ein mittelgroßes Aufwärmen für das Zentralmassiv aus Noten nach der Pause: Rachmaninows 1. Sonate, mehr als eine halbe Stunde entspannungspausenloses Fabulieren. Großes Pathos, in die Breite gezogen, ein Beginn, der wie spontan suchend klang, bevor die Form sich weit öffnete. Dass Rachmaninow für dieses Epos von Goethes „Faust“ inspiriert worden war, fügte sich bestens ins Gestaltungsbild. Kantorow wollte das ganz große Drama ausrollen. Im Mittelsatz schlichtes Aussingen einer vermeintlich schlichten Gretchen-Melodie, bevor es komplex wird und der Schlusssatz mit seinem Rauschen und Toben – Walpurgisnacht – gebändigt werden will. Großer, dunkler, orchestraler Ton, der Flügel am Limit, dort also, wo Kantorow schon seit Stunden spielte.

In Brahms‘ Bach-Bearbeitung, der „Chaconne für die linke Hand“ klang, bei aller Klarheit und Gestaltungskunst, hin und wieder ein leichtes Schwächeln und Kämpfen durch, wenn die Strukturen in ihrem inneren Aufbau unklar blieben, bis eine weitere Motiv-Etappe erreicht wurde. Dieses Meisterwerk, mit dem sich der Kreis bei Brahms schloss, spielte Kantorow mit links. Alle anderen Teile dieses herausragenden Klavierabends ebenso.

Nächste Kantorow-Konzerte: 10.1. mit Brahms-Klavierquartetten, Laeiszhalle, Kl. Saal, 9.4. mit Teodor Currentzis, Utopia und Brahms‘ 2. Klavierkonzert, Elbphilharmonie, Gr. Saal, aktuelle Einspielung: Werke von Brahms und Schubert (BIS, CD, ca. 21 Euro)

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