Hamburg. Im Großen Saal der Elbphilharmonie werden Sir Simon Rattle und das Mahler Chamber Orchestra gefeiert, als wären sie Rockstars.
Wer kennt nicht dieses Thema: drei Mini-Seufzer und dann ein weicher Sprung nach oben, von wo aus die Seufzerfigur schrittweise wieder absteigt, das Ganze in wehmütigstem Moll. So beginnt Mozarts Sinfonie g-Moll KV 550. Die Melodie hat es als Warteschleifen- und Kaufhausmusik zu zweifelhaftem Weltruhm gebracht. Abgenudelt, sagt man in solchen Fällen gern. Aber wer das sagt, der hat noch nicht erlebt, was der Dirigent Sir Simon Rattle und das Mahler Chamber Orchestra aus diesem Anfang machen. Auf ihrer Tour mit den drei letzten Mozart-Sinfonien sind sie in der Elbphilharmonie zu Gast. Und fegen ihr Publikum förmlich von den Sitzen.
Elbphilharmonie: Eine Mozart-Sensation, die das Publikum von den Sitzen fegt
So wie sie den ersten Satz der g-Moll-Sinfonie spielen, würde die aber auch jede Warteschleife sprengen. Da kuschelt nichts. Die Figuren sind so sprechend artikuliert, dass sie in wenige Takte ganze Gefühlswelten packen. Und die Bandbreite der Dynamik lässt sich so nur mit echten Ohren an einem physischen Ort wahrnehmen. Wenn das Thema im fast Unhörbaren verklingt, fallen die Bläser im Block fortissimo darüber her. Bekömmlich weicher Übergang? Fehlanzeige. Rattle macht da keine Kompromisse.
Ach was, nicht nur da. Er macht überhaupt keine Kompromisse, den ganzen Abend lang keinen einzigen. Es ist sein erstes Projekt mit Mahler Chamber, und die Begegnung sprüht dermaßen, man könnte sich dabei einen elektrischen Schlag holen. Gemeinsam lassen sie Mozart, den Dramatiker, den Opernkomponisten, den Menschenkenner, quasi in Lebensgröße erstehen. Nichts bleibt im Ungefähren, kein scheinbar unwichtiger Nebengedanke.
Das Ensemble geht mit Sir Simon Rattle ins volle Risiko
Dabei wird Rattle nie plakativ. Es sind die Nuancen, die den Unterschied zwischen gediegen und lebenswichtig machen. Die Zeit, die sich der Pauker zu Beginn der Sinfonie Es-Dur KV 543 nimmt, um die stolze Geste des Tuttis zu unterstreichen. Ein kaum merkliches Innehalten zwischen den beiden Akkorden, mit denen der erste schnelle Teil endet. In solchen Momenten befreit sich die Musik aus dem Korsett des Takts und konfrontiert den Menschen mit dem Ungeregelten, Ungebundenen, mit existenziellen Abgründen. Aber nie länger als für einen Sekundenbruchteil. Das ist schließlich Mozart.
Den berückenden Klang der Bläser, angeführt von Chiara Tonelli mit ihrer Holzflöte, den mühelosen Zusammenhalt der Streichergruppen von den singenden Melodien bis in die scheinbar lässig hingeworfenen, aber so halsbrecherischen Sechzehntelschlaufen in der Jupiter-Sinfonie KV 551, schon das macht Mahler Chamber so schnell keiner und keine nach. Wirklich atemberaubend aber ist, wie sie auf Rattle reagieren, in Echtzeit die feinsten Tempoveränderungen mitmachen. Sie gehen ins Risiko, alle miteinander. Und darum geht es doch. Das ist es, was die Menschen so fasziniert und beglückt. Immer wieder sieht man im Orchester lächelnde Gesichter, oder sie teilen mit einer kleinen Körperdrehung die Freude über eine raffinierte Harmonie.
- Thielemann sagt Konzert ab: Durch Zufall kommt Weltstar als Ersatz
- Kontroverse um Currentzis in Hamburg: Soll er hier auftreten?
- Iranische Komponistin: „Bringt Komponieren Sie in Gefahr?“
Entfesselter Jubel. Das Publikum feiert Rattle und das Orchester, als wären sie Rockstars. Und natürlich Mozart. Dem hätte es gefallen. Wer nicht dabei war, kann die Sternstunde in der Elbphilharmonie-Mediathek erleben. Allerdings nur als fernen Widerschein. Denn eins ist klar: Kein Gerät der Welt kann die Energie einfangen, die an diesem Abend zwischen 2000 Menschen entstanden ist.