Hamburg. In der Ausstellung „In with the new“ ist der sympathische, interessierte Blick auf andere präsent. Achtung: Manche Balkons sind aus Pappe.

In der politischen Diskussion gilt „Wokeness“ mittlerweile als Kampfbegriff. Bis weit ins konservativ-liberale Lager hinein wird jeder, der etwas auf Mitgefühl, Rücksichtnahme und Freundlichkeit gibt, als „woke“ beschimpft, was die Diskussion von vornherein verunmöglicht.

Nach dieser Logik würde es sich auch nicht lohnen, mit den 30 Künstlerinnen und Künstlern zu diskutieren, die während der vergangenen drei Jahre die Arbeitsstipendien für Bildende Kunst der Freien und Hansestadt Hamburg bekamen: Was in diesem Zusammenhang aktuell unter dem Titel „In with the new“ in der Harburger Sammlung Falckenberg ausgestellt wird, ist zutiefst „woke“ Kunst. In diesem Falle: Kunst, die sich für ihre Umgebung interessiert und die dieses Interesse erst einmal mit grundlegender Sympathie formuliert.

Sammlung Falckenberg: Ausstellung IN WITH THE NEW
Leonie Kelleins „Stupor (Filmstill)“ ist eine Arbeit von 2024 und ebenfalls in Harburg zu sehen. © VG Bildkunst, Bonn. 2024 | VG Bildkunst, Bonn. 2024

Zum Beispiel in Al Anders’ Video „My Dear Beloved Queer Family“. Eine Gruppe junger Menschen ist da zu sehen, die in einem eigenartig lustgeprägten Stadtraum lagert, zwischen Betonbauten und wuchernder Natur wird gegessen und geklönt, und nur in Halbsätzen erfährt man, dass diese utopische Gesellschaft bedroht ist: Einer Beteiligten droht die Abschiebung, das gute Leben im Kleinen ist nicht so einfach zu haben, wie man es sich erträumt.

Oder Gulzat Matisakova, die mit ihrem Video „Bizim Hikayemez“ weiblichen Migrationsgeschichten nachspürt und dabei den Ansatz des „radically soft filmmaking“ verfolgt, in dem es um Fürsorge, Schutz und Empathie geht. Oder Daniel Chatard, dessen Fotoserie „Äquator der Ungleichheit“ den Verlauf der Autobahn 40 im Ruhrbiet nachzeichnet und dabei Lebensrealitäten südlich (wohlhabend) und nördlich (prekär) des Asphaltbandes dokumentiert.

Sammlung Falckenberg: Das ist im besten Sinne zutiefst „woke“ Kunst

Bei allen Arbeiten ist der sympathische, interessierte Blick auf das Gegenüber präsent, auf seine Probleme, Ängste, Wünsche, im Gegensatz zu Präsentationen früherer Stipendiaten gibt es kaum Innenschau, Selbstbezügliches, auch wenig Theoretisches. Das macht die aktuelle Schau politisch relevant, es sorgt aber auch für eine leichte Konsumierbarkeit der Ausstellung: Sehr viele der gezeigten Künstler arbeiten mit Fotografie und Video, konzeptionelle Perspektiven gibt es anders als früher kaum noch.

Allerdings auch wenig Rückgriffe auf Traditionen. Klassische Malerei liefert gerade mal Gosia Machon mit „Psychy Paths“, auch Sevil Aminis Triptychon „Venus, die Leere und der Mann mit der Waffe“ lässt sich hier teilweise dazu zählen, und es kommt vielleicht nicht von ungefähr, dass das die Arbeiten sind, die einem weniger in Erinnerung bleiben. Weil sie irgendwie aus einer Zeit gefallen wirken, in der es mehr um Anteilnahme und Engagement geht als um perfekt beherrschte künstlerische Mittel. Das Beherrschen der Mittel ist bei einer Ausstellung auf diesem Niveau ohnehin selbstverständlich.

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Erstmals bespielen die Stipendiaten alle vier Etagen der Sammlung Falckenberg. Was bedeutet, dass die gezeigte Kunst viel Raum zur Verfügung hat und dass sie sich diesen Raum auch nimmt, mit umfangreichen Installationen von Nurgül Dursun, von Florian Bräunlich oder von Prateek Vijan.

Hübsch „Aussicht (mal gucken)“ von Jil Lahr: Die Künstlerin hat im gesamten Treppenhaus Pappbalkone an die Wände gehängt, lieblich einerseits, gefährlich andererseits. Vor allem: entwickelt mit dem Selbstbewusstsein einer Künstlerin, die weiß, dass sie sich über mehrere Quadratmeter ausbreiten darf, weil ihre Kunst das aushält.

In with the new: Arbeitsstipendien für Bildende Kunst der Freien und Hansestadt Hamburg, bis 12. Januar, Sammlung Falckenberg, Wilstorfer Straße 71, Sonnabend und Sonntag, 12 bis 17 Uhr, www.sammlung-falckenberg.de

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