Hamburg. Webers „Freischütz“ mit René Jacobs und dem Freiburger Barockorchester begeistert das Publikum in der Elbphilharmonie.

Schon in den ersten Minuten, während der finster bewölkten „Freischütz“-Ouvertüre, wird klar: Über die trutschigen Untiefen der Geschichte hinwegdösen, in denen es altdeutsch nach Jägerzaun-Befindlichkeit und frömmelndem Schauermärchen mit Biedermeier-Haube müffelt? Das ist hier nicht. Die sind alle weg, wie weggezaubert. Und plötzlich sind knapp drei Stunden um.

Elbphilharmonie: „Freischütz“ als Hör-Singspiel

Sobald René Jacobs einmal eine Oper konsequent vom Kopf auf die Füße stellt und sie mit engelsgeduldiger Quellen-Ausgrabungsarbeit von ihrem Image-Problem befreit hat, will man sie so schnell nicht mehr anders erleben, erst recht nicht ohne die kleinen Kunstgriffe und Qualitäten wie die, mit denen das auf Jacobs’ Analysen abonnierte Freiburger Barockorchester (FBO) bei diesem Auftakt aufwartete: Je zwei Hochrisiko-Naturhörner, die den einheitlicheren Klang modernerer Instrumente historisch korrekt verfehlen, links und rechts auf der Bühne für einen ersten aparten Stereo-Effekt.

Dazu die sehnigen Posaunchen und die schmaler auftrumpfenden Holzbläser-Antiquitäten – ein Experten-Tutti, das willens und in der Lage war, aus Webers Singspiel-Klassiker einen Hörspiel-Krimi zu machen.

Dieses Umdenken und Neuhörenkönnen war schon bei seiner aufregend energiegeladenen Version von Beethovens „Leonore“ präsent, die bei Jacobs tatsächlich besser und schlüssiger war als der spätere daraus hervorgegangene „Fidelio“ (die konzertante Aufführung in der Elbphilharmonie musste im Herbst 2020 coronalädiert ausgerechnet ohne Chor auskommen).

Elbphilharmonie: Viel hinreißender, wirkungsvoller Bühnenzauber

Nun also der gute alte, hier so gar nicht nur brave „Freischütz“, voll besetzt und toll und ganz; sogar so, wie er normalerweise nicht zur Aufführung gerät. Normalerweise kommt der alles regelnde Eremit (elegant und klar: Torben Jürgens) erst kurz vor dem Finale wie ein heiliger Kai aus seiner Einsiedler-Kiste und ebnet den Weg ins rührselige Happy End. Hier bestimmt er jene Eingangsszene, die Weber auf dringendes, letztlich aber falsches Anraten seiner Frau, einer Sängerin, dann doch nicht vertont hatte. Ganz andere Balance, Dramaturgie und Sinnstiftung, und für die Musik zu dieser Wissenlückenfüllungs-Episode hatte Jacobs atmosphärisch Passendes von Weber selbst und von dessen nahem Gemütsverwandten Schubert adoptiert.

Jacobs’ nächster Trick: Er wertete Samuel, den mephistophelischen bad guy, deutlich auf, indem er ihn, „das Gift Gottes“, mit viel neuem Text zum inneren Dialog-Partner des Freikugeln-Schummlers Kaspar machte. Der Schauspieler Max Urlacher spukte dafür wie ein wildgewordener Poltergeist über die Bühne und durch die Saal-Ränge, er schnaubte, hetzte und verkündete mit schmierigem Schwefel-Aroma, was seiner Meinung nach zu passieren hatte, um die rustikalen Jägersleut’ und die braven Bäuerlein ins höllische Elend zu treiben.

Dass Jacobs auch alle anderen Sprechtexte entrümpelt, gestrafft und behutsam modernisiert hatte („Lieber Max: Gott ist tot“ – ein berühmter Oneliner von Nietzsche, der allerdings erst 23 Jahre nach der „Freischütz“-Uraufführung 1821 geboren wurde), unterstrich, wie viel lohnendes, revolutionäres Theater-Drama in diesem Stück steckt, wenn man nur weiß, wo. Und wie man es mit den passenden Methoden herauskitzelt.

Viel hinreißender, wirkungsvoller, ganz einfacher Bühnenzauber

Scheinbar seelenruhig abarbeitende Führungskraft am Dirigentenpult war Jacobs, der sich nie ernsthaft ins hektische Nachregeln begeben musste. Es lief ja alles rund, ein Mitschnitt und eine Tournee sorgten für Trittsicherheit. Kein Wunder, auch, weil sein Stimm-Sachverstand ein fein passendes Ensemble vereint hatte: Magnus Stavelands Max hatte Format und Kern, Matthias Winckhler war ein anhörenswerter Kuno; Dimitry Ivashchenko kostete jeden seiner Auftritte als Kaspar genüsslich aus.

Schade, dass Ännchens Part nicht mehr Bühnenzeit für die quirlige Katharina Ruckgaber hergab. Polina Pasztircsáks Agathe? Vom Schönsten, in jeder Phrase. Das letzte bisschen ungebremste Begeisterung war der Zürcher Sing-Akademie zuzuschreiben, Stichwort: Jägerchor. Szenenbeifall, einer von einigen.

Ansonsten: viel hinreißender, wirkungsvoller, ganz einfacher Bühnenzauber, musikalisch wie szenisch, doch immer so anschaulich, dass es außer einem Tisch mit zwei Stühlen, einem Blumenstrauß und einigen Flinten nichts gab, was man dringend hätte vermissen müssen. Während sich das Bühnenbild-Team in regulären Aufführungen für die Wolfsschlucht regelmäßig verausgabt oder mit Geisterbahn-Klimbim verhebt, genügte hier die Schlagzeug-Abteilung, die bei gedämpftem Saal-Licht allein mit einigen gruseligen Geräuschen für Spukstimmung sorgte. So präsentiert, wurde Webers Meisterwerk noch besser, als es ohnehin schon klingen kann.

Aufnahme: „Der Freischütz“, René Jacobs, FBO u.a. (harmonia mundi, 2 CDs, ca. 25 Euro)