Hamburg. Calixto Bieito inszeniert zur Saisoneröffnung den Dreiteiler „Trionfi“ von Carl Orff. Zu sehen gibt es viel, nur zu einem Thema nicht.

„Carmina Burana“ von Carl Orff gehört zu den meistgespielten Stücken des Klassikbetriebs überhaupt. Schon im „Dritten Reich“ hat es rauschende Erfolge gefeiert. „Carmina Burana“, das ist sozusagen Musik in Primärfarben, laut, mit wenig Zwischentönen und archaisch stampfenden Rhythmen. Passend zur politischen Stimmung im Land, könnte man meinen.

Es wirkt beinahe gruselig, dass die Staatsoper Hamburg „Carmina Burana“ ausgerechnet am Vorabend der Landtagswahl in Brandenburg herausbringt. Nämlich als Teil des Triptychons „Trionfi“ (zu Deutsch „Triumphe“), zu dem der Komponist die „Carmina Burana“ mit zwei weiteren Werken zusammengefasst hatte.

„Carmina Burana“ an der Staatsoper Hamburg: Calixto Bieito inszeniert zur Saisoneröffnung überbordend bunt

Das Gesamtwerk, wie auch die Teile „Catulli Carmina“ von 1943 und „Trionfo di Afrodite“, entstanden nach Kriegsende, kennen höchstens Eingeweihte. Mutiger Schritt also von der Staatsoper, damit die neue Saison zu eröffnen. Ein Schelm, wer sich etwas dabei denkt, dass der Allzeithit „Carmina Burana“ wider die Chronologie am Schluss des Abends gezeigt wird.  

Viel mehr als ein raumhohes weißes Portal braucht der Regisseur Calixto Bieito nicht als Bühnenbild. Der Graben ist abgedeckt, das Orchester sitzt auf einer Galerie im Hintergrund. So weit, so zurückhaltend. Dafür schickt Bieito, das Enfant terrible vom Dienst des Regietheaters, schon vor dem ersten Ton eine kleinwüchsige Komparsin auf die Bühne, eine stille Beobachterin, die ihre Kommentare in ihre lasziven Bewegungen legt. Schließlich geht es in „Trionfi“, so bildungshuberisch die Antike auf den ersten Blick daherkommen mag, hauptsächlich um Sex.

Bieito übersetzt die erotische Spannung der „Catulli Carmina“ in eine knappe Choreografie

Wem sich wie der Rezensentin bei lateinischen Versen ein Aroma von Kreidestaub auf die Zunge legt und bei Orffs Stil die Haare sträuben, den belehrt der erste Teil des Abends eines Besseren. Bieito verbindet in „Catulli Carmina“ Musik und Szene zu einem packenden Ganzen. Anja Rabes hat für die Sängerinnen des Chors Liatoshynski Capella Kyiv luftige, elegant fließende, farbenfrohe Seidenkleider entworfen, eine Feier der Jugendlichkeit und der Sinnenfreude.

Der altrömische Dichter Catull hat sein leidenschaftliches Verhältnis mit einer verheirateten Patrizierin, er nannte sie Lesbia, ausgiebig besungen und sich dabei verbal keine Zurückhaltung auferlegt. Von regen Zünglein ist die Rede, von schwellenden Lippen und der Rute, die sich „nach deinem Brünnlein“ sehne. Bieito übersetzt die erotische Spannung in eine knappe Choreografie, die das Orchester mit einbezieht.

Das besteht in diesem Teil lediglich aus vier Flügeln, Pauken und einem ganzen Füllhorn an Schlaginstrumenten. Unter Kent Naganos unaufgeregtem Dirigat entfaltet es einen nervösen Drive. Immer bebt irgendwo ein Dreierrhythmus, leise, aber deutlich und beeindruckend präzise mit dem Chor zusammen – und das, obwohl die Sängerinnen und Sänger die meiste Zeit weit vor Orchester agieren, Nagano also im Rücken haben. Sie werden dirigiert von dem Assistenten Marco Kim, der steht direkt vor ihnen.

Das stimmende Orchester ist der letzte Eindruck szenischer Konzentration

Ebenso brillant singen der Tenor Oleksiy Palchykov als Catull und die Sopranistin Nicole Chevalier als Lesbia. Während Orff jeder Verführung durch musikalische Mittel, etwa durch schmelzende Melodik oder sublime motivische Entwicklungen, eine Absage erteilt, gleicht die Inszenierung das nach Kräften aus, und die beiden sind darstellerisch mittendrin. Lesbia wird von lauter Nackten befingert, Geschlecht zweitrangig, während Catull sich der Verführungsversuche durch eine Alte erwehren muss.

Trionfi
Alle wollen Lesbia, grandios gesungen von Nicole Chevalier. © (c)Brinkhoff-Moegenburg | Brinkhoff-Moegenburg

Als Übergang zu „Trionfo di Afrodite“ kommen die Streicher und Bläser des Philharmonischen Staatsorchesters auf riesigen Gestellen hereingefahren. Die Musik geht über in philharmonisches Stimmen, übrig bleibt der Kammerton A. Ein starkes, konzentriertes Bild. Es wird das letzte bleiben. Die Beteiligten singen, musizieren weiterhin auf hervorragendem Niveau und gewinnen der Musik alle Nuancen ab, die diese nur herzugeben bereit ist. Nur Bieito kann seine notorische Ideenflut nicht länger halten.

Bieito liefert überwältigend bunte Bilder ohne zusätzlichen Erkenntnisgewinn

Zu den Gesängen auf Verse von Catull und der altgriechischen Dichterin Sappho, auch sie drehen sich natürlich wieder um das eine, wirft er freihändig an Symbolen auf die Bühne oder auch per Videoprojektion an die weißen Portalwände, was sich nicht wehrt. Da schwirrt ein Kolibri um eine Blüte (Achtung, erotische Metapher!), da werden Nackte in einem Glaskasten ausgestellt. Eine Barbusige im ferrariroten Seidenrock hat plötzlich einen Schwall schwarzer Farbe auf der Zunge – Öl? Blut? Wir erfahren es nicht. Tief beeindruckend ist die Tänzerin Gerlinde Supplitt als Allegorie des Alters. Doch bei allem Respekt für die darstellerische Leistung und auch für Bieitos souveräne Personenregie, so viel Rätselraten streng an.

Und der Höhepunkt des Abends kommt ja erst. Bieito liefert überwältigend bunte Bilder zu dem ausufernden Fest, das die „Carmina Burana“ besingen, allerdings bar jeden Erkenntnisgewinns. In Bottichen wird Wein gestampft, der rote Traubensaft fließt in Strömen. Kein Blut, nirgends, auch kein Kommentar zur problematischen Rezeptionsgeschichte.

Mehr Musik, mehr Theater, mehr Musiktheater

Nagano hält mit Erfolg gegen die szenische Beliebigkeit. Anfangs sind Chor und Orchester längere Zeit auseinander, aber danach gelingt eine selten subtile Interpretation.

Ein besonders inniger Moment gehört der Sopranistin Sandra Hamaoui mit dem himmelhohen „Dulcissime!“. Sie singt selbst kopfüber noch wunderbar und darf zum Dank für die Akrobatik am Schluss das Oberteil ausziehen. Große Begeisterung, mehr als eine gute Viertelstunde Applaus. Und für den Regisseur nur ein paar schüchterne Buhs.

Weitere Termine: 25.9., 1. / 5. / 9. / 12.10., jeweils 19 Uhr. Informationen: www.staatsoper.de