Hamburg. Herbert Fritschs hysterisch ins Leere laufende Inszenierung an der Staatsoper war zum Saisonstart nur selten mehr als Mittelmaß.

Ein Tag später, und das leicht verwirrte Hirn trudelt immer noch nach. Diese vielen, diese wirklich sehr vielen, diese ganz eindeutig viel zu vielen Disney-Animationsfilm-Kostümfarben bei "Carmen" in der Staatsoper. Diese Musik, die, ganz gegen ihre Natur, stellenweise so wahn-unwitzig schnell losbretterte, als hätte der Gast-Dirigent Yoel Gamzou den Philharmonikern einen Sack Amphetamine ins Kantinen-Essen geschaufelt, um stellenweise das Tempo eines „Tom und Jerry“-Cartoons zu erreichen – und Sekunden später, genauso willkürlich, eine brutale Vollbremsung einzulegen.

Immer wieder geriet im Laufe des Abends in der Staatsoper einiges aus dem Takt. Der Chor und der Kinderchor waren nicht darum zu beneiden, dennoch in der Spur bleiben zu sollen. Diese dauerwitzige Regie, für die eine szenische Pointe erst dann eine gute Pointe ist, wenn sie mindestens zweimal zu viel wiederholt wird (erst recht, wenn es das penetrante Herummarschieren des Kinderchors ist). Kann man mit einem Stück machen, allerdings eher, wenn es ein Sprechtheater-Stück ist, dessen Text-Material nach Belieben formbarer sein kann. Bei einer Oper sollte man hin und wieder auch an die und mit der Musik denken und rechnen.

"Carmen" in der Staatsoper: Blamage mit bretternder Musik und zu viel Disney

Gamzou ließ das Gespür für das elegante, sinnlich Französische dieses Publikums-Lieblings schmerzhaft vermissen. Sein Bizet, übereifrig mit demonstrativem Körpereinsatz dirigiert, als wäre es ein Ringkampf, moussierte nicht wie Champagner, der floss nicht selbstverständlich und geschmeidig, der schäumte immer wieder über wie eine energisch geschüttelte Zonensekt-Pulle.

Herbert Fritsch als Regisseur (aus dem in diesem Leben natürlich kein leise weiser Minimalist à la Peter Brook mehr wird) und Bizets doch ziemlich unkaputtbare „Carmen“ – mit dieser herausfordernden Kombination aus Äpfeln und Birnen ist die Staatsoper in ihre Spielzeit gestartet. Und hat sich weitestgehend satt und klar unter ihrem Niveau blamiert. Köstlich amüsiert haben sich nicht erst am Ende viele im Publikum, wütend darüber aufgeregt haben sich ebenso viele.

Letzte Hamburger "Carmen" war graumäusig und brav

Nicht, dass die letzte Hamburger „Carmen“, 2014 von Jens-Daniel Herzog gezeigt, ernsthaft und ernsthafter besser gewesen wäre. Die war eher graumäusig und so postkartenfolkloristisch brav, dass man immerhin (und trotz Handlung und Musik) gnädig wegdämmern konnte, bis einen der nächste Wunschkonzert-Hit am Ohr kitzelte. Das ging bei Fritsch ganz eindeutig nicht. Fritsch as Fritsch can war das Motto für die in Szenen portionierte Nummern-Revue. Hau rein, is’ Flamenco.

Also gilt auch in Fritschs extrem raffiniert ausgeleuchtetem Bühnenbild: viel hilft viel. Im ersten Akt senkt sich eine riesige Madonnenstatue auf eine blumenbunte Verkehrsinsel, ansonsten kein Sevilla-Aroma weit und breit; später dann das Schmugglerlager mitsamt einer wild skizzierten Schlucht und einer für viel zu viele Slapstick-Wackelpartien strapazierte Hängebrücke vor einem riesigen Kreuz. Nebenbei bemerkt: Hauptberufliche Schmuggler, die ihr Zeug in Ruhe und unerwischt durch Gehölz schmuggeln wollen, sollten dabei vielleicht keine geschäftsschädigend grellleuchtenden Kostüme tragen, als wären sie in einen Topf voller frisch ausgelaufener Textmarker gefallen. Am Ende, bevor Carmen sich irgendwie scheinbar halbwegs mithelfend in Zeitlupe von José erstechen lässt, ein riesiges Stierkampf-Plakat plus riesiger Madonna. Hauptsache, alles immer riesig. Dezenz gleich Schwäche, schon klar.

Staatsoper: Maria Kataeva als attraktive Carmen auf der Bühne

War denn tatsächlich alles nur schrecklich schlimm? Nein, das nun auch nicht. Einiges war immerhin mittelprächtig oder auch besser. Mit Maria Kataeva stand eine durch und durch attraktive Carmen auf der Bühne. Ein Mezzosopran, der mit ihrem ersten Auftritt klar macht, dass sie das unwiderstehliche Licht sein will, an der sich alle Männer die Finger verbrennen sollen. Gestylt als zugerüschte, großbeblümte Mischung aus Frida Kahlo und Amy Winehouse, darstellerisch nur im höchsten Gang unterwegs, mit der notwendigen Portion Schlampen-Gemeinheit im Timbre, die es für eine klassische Herzensbrecherin nun mal auch braucht.

Eine Gegenspielerin auf Stimmbandhöhe ist Elbenita Kajtazi als Micaëla, sie kommt auf die Bühne, in ihrem harmlos naiven Blau, und schaltet das Charisma ein, das sie bis zu ihrem letzten Ton tragen wird. Schade allerdings, dass die Regie ihre Hauptpersonen immer wieder zum Frontalsingen auf dem Stimmparkplatz an der Bühnenkante abstellt, um ja keinen Hauch von Naturalismus oder gar dramatischer Realität durchsickern zu lassen.

"Carmen": 1980 mit Plácido Domingo und Christoph von Dohnányi

Nicht zu den Aktivposten der Premiere zählte Tomislav Mužek, der als Don José stimmlich schnell angezählt schien und auf seinem Weg ins Finale mehr und mehr abbaute. Ist es fair, daran zu erinnern, dass in der vorletzten „Carmen“, anno 1980, Plácido Domingo diesen Part sang und Christoph von Dohnányi dirigierte? Wahrscheinlich nicht.

Andere Zeiten, ganz andere Stimmen im Angebot an der Dammtorstraße. Und als Escamillo war Kostas Smoriginas stimmlich in etwa so einfarbig wie sein Stierkämpfer-Kostüm, wegen dessen schillernder Wirkmacht selbst ein Liberace verzückt seufzend in Ohnmacht gefallen wäre. Den Part der Escamillo-Groupies übernahmen genderfluide Hilfs-Toreros in Straps-Strumpfhosen, farblich subtil abgestimmt.

Eine Fritsch-Arbeit ohne Hin-und-Weg-Gerenne beim Schluss-Applaus wäre unvollständig, also tröteten die zwei Bühnentrompeter kurz Quatsch und flitzten wieder raus. Den vor allem auf die Regie zielenden Buh-Sturm bekamen versehentlich andere ab, bevor Fritsch selbst, als Torero verkleidet, kurz an die Rampe flitzte und wieder weggezerrt wurde. Zu spät.

Weitere Termine: 22. / 28.9., 2. / 5. / 7. / 9.10. Infos: www.staatsoper-hamburg.de