Hamburg. Faszinierender präsentierte sich lange kein Pianist in Hamburg: Der Franzose Alexandre Kantorow gab sein Solorecital-Debüt.

Auf Äußeres scheint Alexandre Kantorow nicht viel zu geben, schwarzes Hemd, schwarze Jeans. Fast schüchtern kommt der schmale junge Mann aufs Podium im Kleinen Saal der Elbphilharmonie. Ein kurzer Moment der Konzentration, und dann ist da gleich die volle Energie für die erste Klaviersonate von Brahms. Und wie!

Die orchestrale Wucht dieses Stücks des 20-jährigen Komponisten begeisterte schon 1853 Clara und Robert Schumann, sie nahmen Brahms fortan unter ihre Fittiche. Alexandre Kantorow bändigt die Klangmassen mit einer atemberaubenden Präzision: Halsbrecherische Oktaven, herabstürzende rasende Tonkaskaden – kein Problem für den 25-jährigen Franzosen und 2019 Gewinner des legendären Tschaikowski-Wettbewerbs in Moskau. Alexandre Kantorow ist wirklich auf der „Überholspur“ und passt optimal in die Elbphilharmonie-Reihe „Fast Lane“ für junge Spitzenmusiker und -musikerinnen.

Elbphilharmonie: Solorecital-Debüt mit Musikalität, Ausdruckskraft und -Intensität

Jedenfalls überholt Kantorow mit diesem Elbphilharmonie-Solorecital-Debüt an Musikalität, Ausdruckskraft und -Intensität so manchen routinierten alten Hasen mit großem Namen. Was ihn auszeichnet: Die Freude an der Musik sprießt ihm aus jeder Pore. Aber nicht nur bei der jugendlich frisch herausplatzenden Energie und Virtuosität. Die Spannung, die er im Pianissimo aus den Tasten holt, trägt bis in den letzten Winkel des Saals. Jede einzelne Stimme im opulenten Klaviersatz von Brahms hat Profil: das ist große Klasse! Im Andante-Satz über das Volkslied „Verstohlen geht der Mond auf“ spürt Kantorow der geheimnisvollen Atmosphäre nach, die Ruhe lässt er trügerisch wirken, Schauer laufen über den Rücken. Aber immer leuchten seine vielen Klavierfarben.

Elbphilharmonie: Kantorow zeigt auch die zarten Seiten seiner Künstlerseele

Ein feines Gespür für dramaturgischen Aufbau von Entwicklungen hat der junge Künstler auch. Dynamische Höhepunkte haben die volle, auch körperliche, aber gut kontrollierte Kraft. Bei leiseren Passagen zeigt Kantorow die zarten Seiten seiner Künstler-Seele. Beides miteinander zu verbinden steht auch im zweiten Konzertteil im Fokus. Zuerst bei fünf Schubert-Liedern in einer Bearbeitung von Franz Liszt. Da haben die Liedmelodien einen anrührenden poetischen Zauber.

Gleichzeitig serviert Kantorow die glitzernde Virtuosität um die Melodie herum mit unglaublicher Leichtigkeit und Delikatesse, so dass die Melodien in besonderem Licht strahlen, beispielsweise in „Frühlingsglaube“ oder „Der Müller und der Bach“. Andererseits vermittelt Kantorow auch die Düsternis und Verlorenheit mancher Lieder, wie in „Der Wanderer“.

Elbphilharmonie: Kantorow liefert mit „Wanderer-Fantasie“ grandiosen Abschluss

Grandioser Abschluss dieses „ultimativen Klavierabends“ ist Schuberts große „Wanderer-Fantasie“, in der Schubert sein eigenes Lied „Der Wanderer“ zu einem fast 25-minütigen, technisch anspruchsvollen Klavierwerk verarbeitet. Alexandre Kantorow taucht mit Haut und Haar in diese typisch romantische Welt: Der Wanderer als Symbol für den verlorenen, entfremdeten Menschen auf der Suche nach sich selbst.

Alexandre Kantorow geht auf volles Risiko und blickt in Abgründe, die Schubert hier in Musik setzt. Das klingt nicht selten wie ein Inferno, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Und wenn Kantorow mit seinem schönsten und zärtlichsten Anschlag die Wehmut und Sehnsucht nach einer besseren Welt in Schuberts Melodien anklingen lässt, dann zerreißt es einem fast das Herz. Authentischer, faszinierender hat sich schon lange kein Pianist in Hamburg präsentiert. Standing Ovations und drei Zugaben.