Hamburg. Der Musiker trug in der Fabrik seine Alltagslyrik-Vorlesung vor, performte ein paar Songs und berichtete von einem Shitstorm.
Kann sein, dass Andreas Frege auch durch seinen Auftritt in Hamburg vergangenes Jahr auf den Geschmack kam. Der Musiker, den alle als Campino kennen, versuchte sich beim Harbour Front Festival erfolgreich als Moderator einer Buchvorstellung, nämlich der von Philipp Oehmkes Familien-Epos „Schönwald“.
Nun war Campino also wieder mit literarischem Auftrag in der Stadt. Beim Harbour-Front-Ersatz Elb.lit, das am Donnerstag in der Fabrik einen Abend Campino widmete – und dessen Faible für die Poesie. „Kästner, Kraftwerk, Cock Sparrer“ heißt ein jetzt erscheinender Band, der eine Abschrift einer Düsseldorfer Doppel-Vorlesung an der Heinrich-Heine-Universität vor knapp einem halben Jahr ist. Die hieß genauso, und sie verhalf dem Chef der Toten Hosen („Als ehemaliger Student der HHU hatte ich es damals gerade mal bis in die Mensa geschafft“) mit einer Gastprofessur zu einer Art akademischem Comeback – und endlich zum Betreten des Hörsaals.
Campino in Hamburg: Der Tote-Hosen-Mann brachte Gitarrist Kuddel mit
Nach Altona, wo Campino seine Liebeserklärung an die Gebrauchslyrik, also die lebensnahe, popkulturell gepimpte Wortsetzerei zu Gehör brachte, hatte er übrigens Hosen-Gitarrist Kuddel mitgebracht. Oder zwangsverpflichtet? Ach was, der steuerte die Akustikgitarre zu Campinos Gesang bei ein paar hingebungsvoll vorgetragenen Liedern wie „Verschwende deine Zeit“ gerne bei. Spürte man. Und Kuddel hörte seinem schlauen Bandleader auch aufmerksam zu bei dessen Erörterungen. Zwei gar nicht mehr junge Vertreter einer Generation, die noch liest: So konnte man es auch sehen.
Campinos Hinwendung zur Literatur des Alltäglichen, zur Alltagslyrik, die er ganz richtig mit Brecht, dem Begriffserfinder, und Kästner (ihn zitierte er ausführlich in Altona) grundiert, ist sympathisch. Weil sie purer Pop ist. Er begreife Kästner „als kleine Lebenshilfe zum täglichen Gebrauch“, sagt Campino. Als Texter von Songs will er ja dasselbe: „Sie sollen schlicht und leicht zugänglich, mit einer Haltung verfasst sein, und im besten Fall auch als kleiner Leitfaden fürs Leben dienen. Wenn man mich fragen würde, was die Toten Hosen seit 40 Jahren textlich versuchen, fühle ich mich mit der Bezeichnung Gebrauchslyrik so wohl wie mit keiner anderen.“
Campino in der Fabrik: Auch Fortuna-Düsseldorf-Trikots waren vertreten
Der weit überwiegende Teil der zahlreichen (350, ausverkauft) Besucherinnen und Besucher in der Fabrik war fraglos aus Punk-Gesichtspunkten da. Hosen-Fans mit Band-Shirts oder im Fortuna-Düsseldorf-Trikot also, gerne mit Bierglas in der Hand. Versteht sich, dass das Auditorium beim Vorlesungsteil wissbegierig lauschte. Aber nur bei den Songs fröhlich jubelte.
Sollten die Campino-Ultras den kompletten Text im Buch lesen, werden sie sich über Campinos Insider-Blick in die Rock-Werkstatt freuen. Der Musiker arbeitet anders als der Dichter: Es ist die „Stimmung der Musik“, wie Campino erklärt, die den Songs ihre Texte zutreibt. Im Proberaum entstehen Songs, die Campino mit einer Fantasiesprache unterlegt; die Rohaufnahmen hört er zu Hause so lange, bis sich die Lyrics in sie hineinschieben.
Was Campino tatsächlich erzählte, war: Songtexte schreiben ist harte Arbeit. Er ringt mit ihnen. Er sei immer auf der Suche nach dem perfekten Lied. Wäre er das nicht mehr, würde er mit der Musik aufhören, erklärte der Sänger.
„Hamburg ist immer gut zu uns gewesen“, sagte Campino gleich am Anfang und erzählte vom ersten von fünf Tote-Hosen-Konzerten in der Fabrik 1984. Er hatte ein paar Anekdoten parat, logisch, viele Schlägereien oder Beinah-Schlägereien (auf dem Dom) spielten da eine Rolle und auch ein auseinandergenommenes Klo in Cloppenburg.
Er sei, gestand Campino übrigens früh, überfordert vom medialen Echo auf seine Vorlesung im April gewesen. Es gab Hasskommentare auf ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat (in etwa: „Wir müssen alle gemeinsam gegen die Dummheit vorgehen“), die er in Hamburg genüsslich vorlas. „Was bildet sich der Salonkolumnist eigentlich ein, uns zu belehren?“, „Steuerflüchtiger Staatspunker“, „Kleingeistiger Büttel der Oberen“, „Was hat diese hirntote Hose da zu suchen“ und so weiter. Gelächter, aber auch Mitgefühl, weil ein Shitstorm ja eine Zumutung ist und unfassbar negativ aufgeladen.
- Simone Buchholz über AfD: „Jung-Nazis denken, sie können mal zuschlagen“
- Hape Kerkeling in Hamburg: Am meisten lachte der Comedian über Reinbek
- Elb.lit: „Weltpremiere“ mit Iris Berben und Olli Dittrich in Hamburg
Zwischen Dichtung und Musik bewegte sich der Künstler nicht überraschend ständig in dieser kurzweiligen Festivalversion der Vorlesung. Seine Gedanken zur Gebrauchslyrik führen immer wieder zu den Klassikern, nicht nur für den 62-Jährigen sind das ganz klar „Liebe, Sinn des Lebens, Nachdenken über sich selbst, Erwachsenwerden, das Altern“. Es war, spätestens als Campino „Unser Haus“ sang, ein melancholischer Abend.
Campino und Die Toten Hosen: Auf Freddy Quinn mussten sie einst reagieren
Der Sohn eines Richters und einer Lehrerin, der die siebte Klasse wiederholen musste, nimmt seine Beschäftigung mit der Lyrik übrigens ernst genug, um auch Entertainment und Kunst der Weimarer Republik und der Nachkriegszeit einer schmissigen essayistischen Abhandlung zu unterziehen.
Über Avantgarde, Schlager, Beatles landete er in der Fabrik bei guten deutschen Texten der 60er-Jahre wie die der Blizzards (Campino: „Dramatisch gut“). Ein Freddy-Quinn-Diss – unverzeihlich dessen 68er-Hatespeech „Wir“ mit dem Vers „Wer will nicht mit Gammlern verwechselt werden?“ – durfte in Campinos Düsseldorfer und nun auch Hamburger Vortrag nicht fehlen. Die Toten Hosen landeten mit einer Konter-Version des Quinn-Songs in den 80ern in den Charts.
Weil die Popkultur vor allem englisch ist, würdigte Campino in seiner Textexegese auch Musiker wie Billy Bragg und den Punk der ausgehenden 70er: In Wirklichkeit war der Fabrik-Abend auch in der Lesung mehr Musik als Literatur und ist Campinos Auseinandersetzung mit der Gattung Lyrik vor allem ein Gang durch die Musikgeschichte und die eigene Biografie. Seine englische Mutter, sein deutscher Vater, der späte, freundliche Blick auf frühe Konflikte. Und, na klar, die Punk-Anfänge von Andreas aus Mettmann im Ratinger Hof: Es war alles ein Gedicht.
Hosen-Chef Campino: „Kein Dichterpreis zu gewinnen“
Mit seiner ersten Band ZK fing der sehr junge Campino einst an, rotzig zu texten – für seine Zeilen „gab es keinen Dichterpreis zu gewinnen, aber sie waren wenigstens anders als das, was die meisten Punkbands damals vorgetragen haben“, resümiert er im Buch nüchtern.
Punk ist halt keine Hochkultur, vom Grundverständnis her, sondern eben das: Alltagslyrik. Die wichtigste Band aus Düsseldorf, die einzige deutsche von Weltrang, ist bekanntlich Kraftwerk. Auch ihr widmet sich der Musiker und Autor im Buch. In der Fabrik ließ er die Elektro-Götter außen vor. Dafür gab es Hannes Wader (Campino: „Seine Texte sind mit das Beste, was auf Deutsch geschrieben wurde“) satt. Der frühere, Punk-infizierte Verächter Campino ist längst zum Liedermacher-Connaisseur geworden.
Campino und KI: Auch der Computer kann Alltagslyrik
Seiner zweiten Band nach ZK, mit der er in Deutschland weltberühmt wurde, den Toten Hosen, gebührte viel Raum. Die in der Fabrik performten Punkrock-Stücke waren aus Gesichtspunkten der Unterhaltung die Höhepunkte des Abends. Und gleichzeitig die praktische Veranschaulichung des Theorieteils: Wo viele im Publikum mitsingen, muss der Gegenstand Alltagslyrik ganz sicher aufs Vortrefflichste behandelt sein.
Am Ende berichtete Professor Campino von der Arbeit mit KI im Studio – Parameter: Guns‘N‘Roses, Scorpions, Lovesong – und resümierte: verblüffend treffsicher. Künstler, die sich selbst abschaffen? Campino gibt sich keinen Illusionen hin, „in fünf Jahren wird KI bessere Tote-Hosen-Songs schreiben als wir selbst“. ChatGPT-Versuche („Schreibe ein Lied wie Campino“) brachte er auch zu Gehör; lustig, gruselig, unvermeidlich. Auch der Computer kann Alltagslyrik.
Sternstunde oder Reinfall? Jeden Monat rezensieren wir für unsere Abonnentinnen und Abonnenten mehr als 100 Konzerte, Theatervorstellungen, Choreografien, Bücher, Ausstellungen, Serien oder Filme. Hier finden Sie alle Kritiken – was Sie in Hamburg gesehen, gehört oder gelesen haben müssen!