Hamburg. Der Musiker moderierte in der Laeiszhalle altmodisch einen Literaturabend. Und erzählte nicht nur Philipp Oehmke von seiner Familie.

Ein Debütant, der anlässlich seines ersten Romans gemeinsam mit Campino auftritt? Muss gut vorgearbeitet haben. Was im Falle Philipp Oehmkes der Fall ist. Der „Spiegel“-Journalist und Neu-Romancier hat vor ein paar Jahren die Tote-Hosen-Biografie „Am Anfang war der Lärm“ geschrieben. Soll ganz gut sein, zum Beispiel notorische Hosen-Verächter müssen sie, eh klar, aber nicht zwangsläufig gelesen haben.

Oehmkes Roman „Schönwald“ ist schon eher ein Muss, zumindest wenn man auf zeitgeistige, dialogsatte Wirkungsprosa steht. Hier fetzen viele Sätze. 400 Leute kamen am Sonntag beim Harbour Front Festival zum Oehmke-und-Campino-Abend in der Kleinen Laeiszhalle: Riesenpublikum, jedenfalls gemessen an vergleichbaren Veranstaltungen im schönen Bereich der Literatur.

Campino in Hamburg: Fiktives über Die Toten Hosen auf der Bühne der Laeiszhalle

Was erwartete dieses Publikum, das war die Frage. Sicher durchaus viel Campino, am besten auch Hamburg. Dort spielt „Schönwald“ in Teilen. Der Clou: Es gibt ein Kapitel, das beides vereint, es geht um ein Konzert der Toten Hosen Mitte der Achtzigerjahre im Audimax. Und dieses Kapitel las Oehmke. Ja, er las insgesamt ausgiebig. Das war ein altmodischer Literaturabend, den Campino im Übrigen astrein wegmoderierte. Der Superpunk räsonierte über Dinge wie „Rahmenhandlung“ und „Figurenperspektive“, ein Mann vom Fach also.

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Einer, der gutgelaunt die Audimax-Stelle – es geht um angetrunkene Musiker auf der Bühne und herausgerissene Kloschüsseln – kommentierte, als Oehmke noch engagiert vortrug. Sei nie passiert und grundsätzlich das mit dem Betrunkensein ohnehin: stark übertrieben. Gelächter im Publikum. Es waren eindeutig viele Campino-Fans da. Sie bekamen das, was sie wollten, nämlich viele Geschichten aus dem Leben des Musikers. Zum Beispiel die wahre Audimax-Story. Die Toten Hosen traten dort nie auf, wohl aber AC/DC, 1978 war das. Seine Schwester habe ihm das ermöglicht, erzählte der 61-Jährige in der Laeiszhalle; sie habe damals im Ballett von John Neumeier getanzt.

Campino-Auftritt bei Lesung: Die Geheimnisse einer Familie

Später berichtete er von seinem Vater, dem Richter, von dessen sechs Kindern gleich vier zweimal sitzen blieben, „dass der oft keinen Bock hatte, nach Hause zu kommen, kann ich verstehen“. Erzählte von der frisch verwitweten Mutter, vor der er Briefe geheim hielt, die er im Nachlass des Vaters gefunden hatte – Absender sei eine Dame gewesen.

Da ging es dann also grundsätzlich um die Sache mit den Geheimnissen. Sie hatten in der fiktiven Romanfamilie Schönwald ihren Platz, aber auch in der realen nordrhein-westfälischen Familie Frege, der Campino (Andreas Frege!) entstammt. Es war nicht zum Schlechtesten dieses Abends, dass der Moderator und Fragesteller große Themen des Romans, Ehe, Elternschaft, Kindsein, immer wieder aufgriff, um vom eigenen Leben und von seiner Herkunft zu erzählen.

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Anlässlich eines Buchs, von dem man sicher behaupten darf, dass sich Verlag und Autor noch ein wenig mehr Publikumsinteresse erhofft hatten. Auf der Bestsellerliste war „Schönwald“ nur kurz. Und ja, das PR-Brimborium war am Ende vielleicht, nur so eine Idee, ein klein wenig zu explizit. Dass Oehmke, der „Great American Novel“-Fan, über die sozialen Netzwerke eine Armada von VIRs (Very Important Readers) schickte, unter ihnen auch die Toten Hosen, logo: Ja, das war noch okay.

Philipp Oehmkes Roman „Schönwald“ ist guter Stoff

Aber Oehmke verwies im vom Verlag lancierten Begleit-Interview dann auch noch ziemlich penetrant auf seine Vorbilder Updike, Franzen et al., diese ganzen verflixt unterhaltsamen Erzähl-Amis also. Denen eifert er mit seinem deutschen Familienroman „Schönwald“ nach. Wenn es so auffällig ist, warum dann nicht auch deutlich auf die Vorbilder verweisen? So mag sich der 49-Jährige gedacht haben. Nun, „Schönwald“ ist ziemlich guter Stoff, an dieser Stelle noch mal – klare Leseempfehlung.

Aber mitgehen bei diesem Lob wollten längst nicht alle; trotz oder gerade wegen Oehmkes Offenherzigkeit. Oehmke hat seinen Plot um Familie Schönwald, um die mit der eigenen, vom Patriarchat minimierten Lebensleistung unzufriedenen Ruth, den soliden westdeutschen Karriere-Performer Harry und die drei auf je eigene Weise in ihren Geheimnissen und Unaufrichtigkeiten gefangenen Geschwister Chris, Karolin und Benni, auf Breitwandformat gepimpt. Da ist viel Übertreibung dabei, auch satirische Überspitzung. Fand nicht jeder gut, oder: Verstand halt nicht jeder. Dabei ist es die grelle Überzeichnung zum Beispiel des gottlosen Trump-Amerikas oder der linken, woken Berliner Szene, die zum einen zum Kern der jeweiligen Sache und Person vordringt. Und zum anderen überaus unterhaltend ist.

„Schönwald“: Ein Roman, der unterhalten will

Denn das will der schneidige Erzähler Oehmke fraglos; eine gute Story erzählen, mit Menschen, die plastisch dargestellt werden und mit ihren Erfahrungen etwas über die Zeit berichten, in der sie lebten und leben. Campino gefällt das alles ziemlich gut. Jedenfalls kann man sich kaum vorstellen, dass er allein in der Eigenschaft als guter Bekannter Oehmkes („Philipp, ich kenn dich seit 1988“) immer wieder Sympathie für den Roman durchblicken ließ, als er den Autor in Hamburg nun zu „Schönwald“ befragte.

Philipp Oehmke (im Foto) im Gespräch mit Campino in der kleinen Laeiszhalle über Oehmkes Roman „Schönwald“.
Philipp Oehmke (im Foto) im Gespräch mit Campino in der kleinen Laeiszhalle über Oehmkes Roman „Schönwald“. © Funke Foto Services | Thorsten Ahlf

Die Veranstaltung schnurrte in ihrer Romandeutungs-Gediegenheit ganz prächtig dahin; der Autor erklärte sein aus der alten Bundesrepublik in das nächste Jahrtausend hinübergealterte Personal so gerne wie Campino. Wobei Letzterer („Man kann so herrlich in Figuren und Geschichte hineinschlüpfen“) die Pointen für sich hatte, wenn er etwa, im Vergleich mit der aufgeschlosseneren Romanfigur Harry Schönwald, die Therapeuten-Aversion seines Vaters bekundete oder von dessen allmählicher Anhänglichkeit erzählte. Nach anfänglicher Skepsis ging Vater Frege nämlich zu vielen Konzerten der Toten Hosen. Wenn man ihm in der Hosen-Entourage Ohrstöpsel empfahl, begegnete er dem mit einem abschlägigen „Junge, ich war in der Artillerie“. Eine Anekdote, die Campino zu gerne zu Gehör brachte.

Campino erzähl in Hamburg auch von seiner Mutter

Da „Schönwald“ im Kern aber ein Buch über weibliche Deklassierung ist, musste Campino dem Publikum auch von seiner Mutter berichten, der Oxford-Studentin aus Burnley. Aus Liebe habe sie, wie Oehmkes Romanfigur Ruth, auf eine akademische Karriere verzichtet, als sie in Deutschland eine Familie gründete. Campinos Familiengeschichte kennt man aus seinem Buch „Hope Street“. Einem Werk, das Oehmke lektorierte und das er zu Recht als Familienroman bezeichnet, „der sich als Roman über den FC Liverpool tarnt“.

Gott sei Dank sei man heute gesellschaftlich weiter, sagte Campino im Hinblick auf die Roman-Wirklichkeit in „Schönwald“, auch was das Nicht-mehr-Verschweigen von Missbrauch angehe – ebenfalls ein Motiv des Romans – oder die heutige, emotional zugewandtere Beziehung von Vätern zu ihren Kindern. Bei Campinos aufrichtig wirkenden Einlassungen („Ich fand den Ausbruchsversuch Ruths sehr berührend“) zum Roman äußerte sich, so hochtrabend darf man’s dann auch mal sagen, die Kraft von Literatur: Hier konnte einer wirklich etwas mit einer Erzählung anfangen, sie bewog ihn zum Nachdenken über das Persönliche und Allgemeine.