BRD-Saga, Amerika-Panorama, Uni-Drama, Story einer Familie: Philipp Oehmke erzählt wie seine Helden - auch vom Von-Melle-Park.

Christopher Schönwald, auf den könnten sich die Leserinnen und Leser am Ende wohl einigen. Er ist die faszinierendste Figur in diesem groß aufgezogenen Familien-, Gesellschafts- und Deutschlandroman mit entscheidender Hamburg-Episode.

Oder ist doch seine Mutter Ruth noch interessanter, jene Frau aus einer anderen Epoche, in der Frauen noch ihre Karriere hintanstellten, um sich der Aufzucht des Nachwuchses zu widmen?

In Philipp OehmkesDebütwerk „Schönwald“ sitzt Ruth schweigsam im toten Winkel ihrer Familie, zwangsversöhnt mit der Vergangenheit und deren ausgebliebener akademischen Karriere.

Roman, in dem Hamburg ein pures Desaster – „Schönwald“ von Philipp Oehmke

Ihr Sohn Christopher, den auch sie „Chris“ nennt, war dagegen an der Columbia University in New York ein Star-Prof. Spezialgebiet: der französische Dekonstruktivismus. Was ganz praktisch ist, wenn man einen Sexskandal später nicht anders kann, als von der woken Blase in deren Gegenteil überzuwechseln, den Trumpismus nämlich.

Chris, Mitte 40 und kinderlos, lässt sich in der Erzählgegenwart dieses beherzt aktuellen Romans in den Dunstkreis von Amerikas Rechten ziehen. Donald Jr. hat ihn sogar mal angerufen. Kommt gut an, der Deutsche: Wie geschickt er Trumps „alternative Fakten“ mit der Erklärung rechtfertigt, „Wahrheit“ sei ohnehin nur eine Konstruktion!

Autor Philipp Oehmke war zuletzt „Spiegel“-Korrespondent in New York

Der Berliner „Spiegel“-Journalist Oehmke war zuletzt etliche Jahre als Korrespondent in New York, kennt also sowohl die weltanschaulichen amerikanischen Kriege als auch deren europäische Schallwellen. Seine literarischen Vorbilder sind unverkennbar Autoren wie Jonathan Franzen und Jeffrey Eugenides.

Es müsste doch auch einer mal so einen Roman schreiben, wird der Autor sich gedacht haben, über ein Familienzusammentreffen einer dysfunktionalen Sippe. Über Eltern, die Fehler gemacht haben, und Kinder, die diese Fehler wiederholen. Ein Plot mit viel Dialog, viel Psychologie und vielen Rückblicken, elegant gefügt und schön altmodisch, was das realistische Erzählen angeht.

Das klappt in dem in seinen gesellschaftlichen Teilen satirisch zugespitzten Roman famos: Philipp Oehmke ist ein souveräner und smarter Erzähler. Und auch unverfroren genug, einen völlig unrealistischen Ausgangspunkt zu setzen. Als Chris zur Neu-Eröffnung der queeren Neuköllner Buchhandlung seiner Schwester Karolin nach Deutschland reist, tut er das im Wissen darum, dass tatsächlich niemand dort von seinem Uni-Rausschmiss und Trump-Podcast weiß.

Roman „Schönwald“: Es geht auch um die deutsche Vergangenheit

Was schwer vorstellbar in einer Welt der Allgegenwärtigkeit aller medialen Hervorbringungen ist. Aber sei’s drum, künstlerische Freiheit muss man sich manchmal nehmen. Oehmke modelliert Chris zum idealen Repräsentanten der narzisstischen Jetzt-Zeit, in der Egos kalt über politische Gräben springen, um im Game zu bleiben. In Berlin trifft Chris genau dann beim superlinken Buchladen ein, als eine Gruppe von supersuperlinken Aktivisten die Party crasht. Es geht um die Vergangenheit der Schönwalds, um das auch finanzielle Erbe eines Wehrmachtsoffiziers.

Philipp Oehmke: „Schönwald“. Piper-Verlag. 543 S., 26 Euro
Philipp Oehmke: „Schönwald“. Piper-Verlag. 543 S., 26 Euro

Oehmke will also weit mehr als transatlantische populistische Pointen, sondern auch den Unrat der Germanen. Und so erzählt er in großen Schwüngen auf der Zeitleiste auch von der Nachkriegszeit. Von einem Militär-Ball, auf dem sich Chris’ und Karolins Eltern Ruth und Hans-Harald („Harry“) in den 60er-Jahren im Rheinland kennenlernten. Und vor allem von den 80er-Jahren die Saat gelegt wurde für das Unglück auch der nächsten Generation.

Hamburg als Handlungsort: Philipp Oehmke erzählt von einer Frau, die ausbricht

Geschickt wechselt Oehmke die Perspektiven, um vom Schönwald-Fluch zu erzählen und greift immer wieder Erzählfäden auf, die er eben noch abgelegt hat. Dabei gibt er seinen Figuren große Plastizität und charakterliche Profile.

Es ist Ruth Schönwald, die verhinderte Germanistin, die 1985 Reißaus nimmt von ihrem Staatsanwalt Hans-Harald, die nach depressiven Jahren, ohne je ihr Elend auszusprechen („Never complain, never explain“, gab ihr der Vater mit auf den Lebensweg), aus Köln flieht.

Nach Hamburg, wo eine Professorenstelle zu besetzen und einer, der darüber entscheidet, ein alter Freund von ihr ist. Ruth hat ihre Tochter Karolin dabei, und in dem ganzen Jammer, den der mehrwöchige Trip nach Hamburg hinterlässt, zeigen sich die Schwäche und Härte dieser Frau ihrer Zeit, die es doch nicht durchzieht und zum Ehemann (und dem zweiten Kind) zurückkehrt. Aber den sexuellen Übergriff auf ihre Tochter im Uni-Sekretariat redet sie dann ein Leben lang klein.

Oehmke, der übrigens in Hamburg Germanistik studierte, berichtet mit erheblichem Erzählaufwand und dem berechtigtem Glauben daran, wie sich Lebenserfahrungen vererben, von Mutter Ruth als dunklem Zentrum der Schönwalds. Vor allem ist Oehmke überzeugt davon, dass man von den komplizierten Dynamiken einer Familie fesselnd erzählen kann.

Roman „Schönwald“: Benni kommt neun Monate nach Hamburg-Desaster zur Welt

Das dritte Kind Benni wird neun Monate nach dem Hamburg-Desaster geboren. 35 Jahre später ist der Nachzügler ein im Fertighaus in der Uckermark lebender Bummelant, aber immerhin das einzige Kind, das seine Eltern zu Großeltern gemacht hat. Die Lust des Autors auf pralles Personal kommt auch hier zu ihrem Recht, das macht den Roman so unterhaltsam, wie er ist.

Bennis Schwiegervater ist ein deutscher Tech-Milliardär, der in Amerika zu Geld kam, seine Tochter eine Pseudo-Rebellin, die aber von seinem Geld nur eigentlich nichts wissen will. Die Eheprobleme Bennis sind ein überzeugender Erzählstrang in diesem Buch.

Oehmkes soziologisches Interesse ist messerscharf. Fragen bleiben keine offen, es gibt kein habituelles und mentales Ungefähr. Jede Figur ist das Ergebnis ihrer Sozialisation in Zeit und Raum. Chris’ Gespielin und Mentorin Kimberley ist eine im vulgären, politischen Trashtalk der Trump-Bewegung gestählte Zynikerin. Den ideologischen Doppelagenten Chris, der nach der Verstoßung aus dem liberalen Ostküsten-Paradies zwar beleidigt zum Trumpismus überlief, aber vom Kontrafaktischen doch irgendwie wieder loskommen will, geleitet sie selbstbewusst und nassforsch durch die Manege. Straighte Amis, verzagte Europäer!

„Schönwald“: Ein Roman, der verfilmt werden könnte

Mutter Ruth ist der Wokeness-Kram genauso ungeheuer wie der Polit-Kriegerin Kimberley. Sie hat sich „zeitlebens, gerade was intellektuelle und gesellschaftliche Strömungen betraf, als moderne Frau gesehen“ – aber die Gegenwart („Bioessen, Pilates, gendergerechte Sprache, Identitätspolitik“) ist nicht ihr Ding, die Imperative klingen, „wenn sie ganz ehrlich war, alle nach Nonsens“.

„Schönwald“ erzählt viele Geschichten, von Eltern-Kind-Beziehungen, von Geschwisterbeziehungen, von dem, was Menschen sein wollen, aber nicht werden können, weil sie festhängen in ihren Prägungen. Philipp Oehmke verhebt sich nicht am Mashup von Trump-Persiflage und Familiendrama. Im Gegenteil ist sein auf Verfilmbarkeit getunter Roman ist seiner Dramaturgie und den Plot-Knalleffekten genau richtig angelegt.

Roman über Deutschland und Amerika: Wokeness-Hasser treffen auf Achtsamkeits-Verfechter

Im Grunde ist auch „Schönwald“ ein Ehebruchsroman; das Verzeichnis der Verluste und Gewinne, das Oehmke um dieses klassische Sujet anlegt, dickt diesen Stoff an und sorgt für ein immer wieder komisches Zeugnis unserer Gegenwart, in der Achtsamkeits-Fanatiker auf Identitätsverfechter und Wokeness-Hasser auf 68-Oldtimer treffen.

In die Reihe großer Erzähler stellt sich der Debütant Oehmke durchaus, wir nehmen an, mit einem Augenzwinkern. Sein irrlichternder Ex-Prof. Christopher Schönwald wohnt in New York an der Adresse 243 Riverside Drive. Uwe-Johnson-Schwingungen also, allerdings nicht formal, denn die formvollendete Sprödigkeit des großen Mecklenburgers, der viele Jahre in New York lebte, hat Oehmke nicht drauf.

Der Blick der Achtjährigen auf das zeitlose Hamburg ist fast poetisch: „Karolin wanderte durch die Gänge des 12., 13. und 14. Stockwerks des Uni-Hochhauses. Sie saß stundenlang an den Fensterscheiben und guckte in alle Himmelsrichtungen, nach Osten zur Alster, nach Süden mit der Innenstadt und dem Hafen, nach Westen zum Fernsehturm und nach Norden zum Stadtpark. Sie zählte Häuser und Straßen und die Züge am Dammtor-Bahnhof, suchte geometrische Figuren und Muster in den Bewegungen der kleinen Menschen.“

Philipp Oehmke spricht am 22.10. auf dem Harbour Front Festival mit Campino über seinen Roman „Schönwald“. Laeiszhalle, Kleiner Saal, Beginn 20 Uhr