Hamburg. Die Tage werden kürzer, der Regen nimmt zu: Greifen Sie halt mal wieder ins Regal. Wir haben die besten Lektüretipps für Sie.

Am 16. Oktober beginnt die Buchmesse. Da werden Deals vorbereitet von denen, die Bücher machen – für 2025 schon. Die aktuellen Veröffentlichungen, die Herbst-Novitäten, sind den Verlagen fast schon weniger wichtig. Für die interessiert sich aber das Buchmessepublikum am meisten. Wir tun das an dieser Stelle auch: Man braucht ja jetzt dringend Lesestoff, wo man wieder öfter zu Hause ist und sich auch von innen wärmen will. Es folgen die sieben Top-Roman-Tipps für den Herbst 2024.

Neue Bücher 2024: Kaputte Mutter-Kind-Beziehungen und Bockwurst-Verehrer

Buchcover Unser Ole
Das Buchcover von Katja Lange-Müllers Roman „Unser Ole“, Kiwi, 240 S., 24 Euro. © Kiepenheuer & Witsch | Kiepenheuer & Witsch

Katja Lange-Müller schreibt eine kernige, unverkennbar nüchterne Prosa. Ihren neuen Roman „Unser Ole“ kann man als beinharte Studie über misslingende Mutterschaft lesen. Oder als Komödie über eine absurd zusammengewürfelte WG auf dem Land. Elvira lebt hier mit ihrem kognitiv beeinträchtigten Enkel Ole, der gerne onaniert, Bockwurst isst und Cola trinkt. Ida stößt hinzu, früher mal Trophäe wohlhabender Männer, später dann Senioren-Model. Auf jeden Fall ist sie arm und froh, bei Elvira unterzukommen. Die ist dann irgendwann tot und Manuela, Oles Mutter, rückt ins Bild. Herrje, gehen hier alle Frauen boshaft miteinander um! Ida will dringend bleiben, aber Manuela ist die rechtmäßige Erbin von allem. Ihr Problem: Sie kommt auf den zurückgebliebenen Sohn nicht klar, deswegen kann sie Ida als Zwischeninstanz gut gebrauchen. Alle Mütter sind in diesem Buch defizitäre Wesen. Und mittendrin, als Leerstelle, Ole. Bis er, der vielleicht Schuld am Tod der Oma ist, irgendwann nicht mehr da ist. Harter Stoff, komisch gewendet.

Frankfurter Buchmesse 2024: Weißer Lärm? Punk ist, wenn du trotzdem Musik machst

Buchcover Punk
Das Buchcover von Eckhart Nickels „Punk“, Piper, 209 S., 22 Euro. © Piper Verlag | Piper Verlag

Dass Eckhart Nickel ein Stilist ist, der eine gediegene, altmodische, aber nicht altbackene Prosa schreibt, weiß man mittlerweile. Ausgesucht sind auch seine Stoffe. In „Punk“, diesem auch vom Titel her merkwürdig anziehenden neuen Roman, geht es um eine in der nahen Zukunft liegende Welt, in der der weiße Lärm alles überdeckt und Musik nicht mehr erlaubt ist. Wer hier widerständig ist wie die beiden Nerd-Brüder Ezra und Lambert, der ist tatsächlich „punk“! Karen will bei den Brüdern einziehen. Das schafft sie. Weil sie sich gut mit The Smiths auskennt. Sie, die Pianistin, soll in Ezras und Lamberts heimlicher Band singen. Das kann sie gar nicht, singen, beste Voraussetzungen also. „Punk“ ist ein kleiner, feiner Roman, der den Raum der Leidenschaft öffnet: Hier ist es die für Popmusik. Ein Buch für Nostalgiker.

Buchtipps im Herbst 2024: Das allerhärteste Buch des Jahres kommt aus Frankreich

Buchcover Trauriger Tiger
Das Buchcover von Neige Sinnos „Trauriger Tiger“, dtv, 304 S., 24 Euro. © dtv | Dtv

Es gibt in diesem Buch nüchterne Beschreibungen der ungeheuerlichen Vorgänge. Was der böse, böse Stiefvater mit der kleinen Neige, mit dem Kind Neige getrieben hat. Man blättert schockiert darüber hinweg und fühlt sich bei Neige Sinnos essayistischen Überlegungen, bei ihren literaturwissenschaftlichen Exkursen besser aufgehoben. Sinno, Jahrgang 1977, hat nicht zuletzt in ihrem Heimatland Frankreich für Furore gesorgt, als sie diesen autobiografischen Bericht des sexuellen Kindesmissbrauchs veröffentlichte. In „Trauriger Tiger“ erzählt sie von den jahrelangen Übergriffen des Stiefvaters, von ihrer Mutter, die ihn gemeinsam mit ihr Jahre später anzeigte. Sie erzählt vom so beliebten zweiten Mann ihrer Mutter, der ein Teufel war, davon, was es heißt, sich als Opfer zu exponieren. Dies ist ein mutiges Buch, das noch mal auf andere Weise als das ihrer Landsmännin Constance Debré radikal von einem Bruch im Leben erzählt.

Lesetipps: Der dicke Roman, in dem man für Tage verschwinden kann

Buchcover Monika Zeiner
Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre
Das Buchcover von  Monika Zeiners „Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre“, dtv, 672 S., 28 Euro. © dtv | Dtv

Monika Zeiner legt es in ihrem zweiten Roman „Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre“ absolut darauf an, einen Familienroman in der Tradition Thomas Manns zu schreiben. Mit allem, was dazugehört. Einem tragischen Helden, er heißt hier Nikolas Finck. Mit einer Sippe, in der sich die Leute einander nicht grün sind. Einer Möbeldynastie im Fränkischen, die von den Nazis und den Arisierungen profitierte. Nikolas hat immer gegen die Selbstgerechtigkeit der Seinen angekämpft. In seiner Jugendrevolte. Jetzt kommt er zurück in die Heimat, und er setzt seinen einsamen Kampf fort. Zeiner entwirft ein üppig beladenes Tableau, das durch die Zeiten navigiert und immer wieder auch bei den Altvorderen landet. Manchmal kommt man sich auch vor wie in einem Ideenroman, immer aber glaubt man: Es geht um die Kraft von Literatur. Es müsste mehr solcher Bücher geben, die auf altmodische Weise alles wagen. Und das Thema „deutsche Schuld“ ist bedauerlicherweise immer aktuell.

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Sieben Bücher, die man lesen muss: Anna Katharina Hahns schwäbische Chorprobe

Buchcover Der Chor
Das Buchcover von Anna Katharina Hahns „Der Chor“, 283 S., 25 Euro. © Suhrkamp | Suhrkamp

Anna Katharina Hahn hat auch mal ein paar Jahre in Hamburg gelebt. Aber sie ist schon lange zurück in Schwaben, und ihr neuer Roman „Der Chor“ ist ein reiner Stuttgart-Roman. Geografisch gesehen. Ein paar Freiheiten nimmt sich die Autorin, eine „Genazinostiege“ gibt es in der Stadt am Neckar real nicht, im Roman aber schon. So einen Chor, wie Hahn ihn porträtiert, wird es wohl geben. Alice singt in diesem Chor, Marie tut es, auch Lena. Später kommen noch Cora und Sophie dazu, aber auch schon vorher war die Harmonie des Ensembles gestört. Alice weiß nicht, warum Marie sie nicht mehr mag. Bei Sophie kann Alice ihren Mutterinstinkt ausleben. Als Lena sehr krank wird, müssen Alice und Marie wieder zusammenfinden. „Der Chor“ ist ein fesselnder Stoff mit speziellen Frauenfiguren, der im Fortgang der Handlung mit mancherlei Überraschung aufwartet. Ein Hidden Champion des literarischen Herbstprogramms.

Buchtipps 2024: Ein Künstlerroman, den so nur Hari Kunzru schreiben kann

Buchcover Blue Ruin von Hari Kunzru
Das Buchcover von Hari Kunzrus „Blue Ruin“, Liebeskind, 344 S., 24 Euro. © Liebeskind | Liebeskind

Sie erscheinen jetzt alle, die Romane, in denen zumindest am Rande Corona eine Rolle spielt. Macht nichts, gehört zur Zeitgeschichte. In Hari Kunzrus fantastischem Kunstbetriebsroman „Blue Ruin“ ist die Gegenwart aber lediglich eine literarische Spielfläche. Jay und Alice (noch eine!) haben sich um die Jahrtausendwende für eine kurze Zeit heftig geliebt, und in diese Zeit schaltet sich der Erzähler sehr oft zurück. Jay ist sein nonkomformistischer Totalkünstler, der sich dem Markt letztlich absolut verweigert. Sein bester Freund wird Alices neuer Wegbegleiter und ein Riesenstar. Nicht ganz Damien Hirst, aber eben doch eine ganz andere Nummer als Jay. In der Gegenwart ist dieser Essenausfahrer und vom Leben (und der Seuche) verbraucht. In einem edlen Refugium, einer Residenz mit viel Freifläche inmitten der Stadt, trifft er überraschend auf beide Freunde von einst, dramatische Ereignisse folgen. Von Hari Kunzru, dem englischen Meistererzähler, muss man alles gelesen haben –  wie er das Wiedersehen zu einem dramatischen Endspiel um Standhaftigkeit und Würde macht, ist so große wie unterhaltsame Literatur.

Buchtipps für den Herbst: Magda Goebbels und das böse Prinzip

Buchcover Reichskanzlerplatz
Das Buchcover von Nora Bossongs „Reichskanzlerplatz“, Suhrkamp, 296 S., 25 Euro. © Suhrkamp Verlag | Suhrkamp Verlag

Mit fiktionaler Literatur Personen der Zeitgeschichte beizukommen, ist spätestens seit Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ en vogue. In dieser Saison hat sich Nora Bossong an eine historische Person gewagt, an eine mit schlimmem Leumund: Magda Goebbels, ehemals Quandt. Aus der Perspektive des fiktiven Hans Kesselbach nähert sich Bossong in diesem flüssig geschriebenen Roman der Unperson an, die mit Propagandaminister Joseph Goebbels sechs Kinder bekam. Mit Kesselbach hatte Magda Goebbels im Roman, als sie noch Quandt hieß und mit einem Industriellen verheiratet war, eine Affäre. Hans, ein typischer Mitläufer, ganz sicher auch kein Held also, verfolgt Magdas Heranwanzen an die Nazis zum eigenen Vorteil. Auf unterhaltsame Weise berichtet „Reichskanzlerplatz“ von einer Zeit, in der Menschen auf die Probe gestellt wurden. So schuldig wie Magda Goebbels wurden wenige. Darf man mit so viel Lust am Erfinden – Hans war eigentlich in Magdas Stiefsohn verliebt, später ging er mit Magda ins Bett, auch um seine Homosexualität zu kaschieren – vom Nationalsozialismus erzählen? Ja, warum denn nicht?

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