Hamburg. Constance Debrés Roman „Love Me Tender“ handelt von einem radikalen Leben, von Mut, Freiheit und Sex. Und einer Ungeheuerlichkeit.
Wie soll man in diesem Roman nicht bei der Erzählerin sein? Sich mit ihr identifizieren? Sie führt einen gerechten Kampf. Für Selbstbestimmung, Freiheit. Der Ausbruch aus dem bürgerlichen Korsett, das Nicht-mehr-mithecheln-Wollen im Hamsterrad: Constance traut sich das, als einsame, renitente, couragierte, kompromisslose, Verzeihung: Scheißegal-Frau, die sich überhaupt nicht um die Ablehnung kümmert, die ihr entgegenschlägt, das Unverständnis.
Sie hat Folgendes getan: mit Mitte 40 den Job gekündigt. Die Trennung vom Mann vollzogen. Und dann erst richtig losgelegt, was ihre Selbstfindung angeht. Constance lebt irgendwann das schlichteste, auf das Nötigste heruntergestrippte Leben; in kleinsten Behausungen, das gewissermaßen einzige Möbelstück eine Matratze. Sie gibt alles weg, ihren gesamten Restbesitz. Sie will ohne jeglichen Komfort leben, ohne Ballast. Sie teilt mit: „Meine Arbeit besteht darin, zu warten, zu schwimmen und Frauen zu ficken.“
„Love Me Tender“ von Constance Debré: Eine berühmte Familie, ein radikaler Bruch
Das ist ein zentraler Satz in Constance Debrés Roman „Love Me Tender“, dem ersten ihrer inzwischen vier Bücher, das nun auch auf Deutsch erschienen ist. Ein autobiografischer Roman, in dem das eigene Leben mit den Mitteln der Kunst in Szene gesetzt wird. In Frankreich sorgte der Roman, der zu dem mit Radikalität betriebenen Ablösungsprozess seiner Autorin nicht nur gehört, sondern diesen vermutlich final ins Werk setzt, für großes Aufsehen.
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Das liegt in erster Linie an der Prominenz des Namens Debré. Zum Stammbaum Constance Debrés gehören ein Premierminister und ein bekannter Journalist. Letzterer spielt in „Love Me Tender“ eine Rolle: Die Heldin besucht ihn hin und wieder in der französischen Provinz. Dort lebt er, ihr Vater. Constance Debrés Mutter, ein aus adeligen Verhältnissen stammendes Model, hat sich bereits vor langer Zeit das Leben genommen; dieses Ereignis klingt im Text an.
Constance Debré: Jobkündigung, Scheidung, Coming-out, Trennung vom Kind
Es sind die Privilegien der Herkunft, die Constance ausschlägt. Ein sicher spektakulärer Vorgang: Sie will nur noch schreiben, auch wenn sie davon erst einmal nicht leben kann. Schwimmen will sie, weil es sie fit hält; das Warten ist ein allgemeiner Zustand, mit dem sie fatalistisch das auf sich zukommen lässt, was sie nicht ändern kann.
Nämlich vor allem, dass sich ihr Sohn ihr weiter entfremdet. Paul ist an einem entscheidenden Punkt dieser Erzählung, mit der Debré die Deutungshoheit über ihr Leben behalten will, acht Jahre alt.
Das bürgerliche Lager, zu dem eigentlich fast alle in diesem Fall gehören, vor allem aber ihr Ex-Mann, dem sie erst kurz zuvor eröffnet hat, jetzt auf Frauen zu stehen, macht es der Mutter schwer, ihren Sohn häufig zu sehen. Womit man bei der Eingangsfrage wäre: Man sympathisiert fraglos mit der Erzählerin. Auch weil sie den Wunsch nach einer Befreiung aus alten Pflichten und Notwendigkeiten so total ausagiert. Dies würden viele von uns manchmal gern auch; aber das tabuisierte Leben auf Ego-Pfaden ist ein Wagnis, an das sich die wenigsten trauen.
Skandalbuch „Love Me Tender“: Ein Text, der polarisieren muss
Aber „Love Me Tender“ ist ein Text, der polarisieren muss, das Zeugnis einer außergewöhnlichen Entscheidung. Einer Entscheidung, die nicht nur die Heldin betrifft, sondern mit deren Ex-Mann und dem gemeinsamen Kind den Kern eines Lebensentwurfs, für den längst nicht alles, aber doch manches spricht. Der auf der Suche nach Sex nicht zimperlich zu Werke gehende Outlaw – ob und wie schwer der lange Weg zur Homosexualität für sie war, thematisiert Debré in diesem Text nicht – muss sich von Gerichts wegen einer psychologischen Untersuchung unterziehen. Als ob eine Frau, nur weil sie plötzlich Lesbe ist, eine Gefahr für ihr Kind darstellte.
Aber erscheint das Misstrauen der Gegenseite nicht zunächst einmal gerechtfertigt? Die Abwendung von den gesicherten Verhältnissen vollzieht sich auch äußerlich: Debré rasiert sich die Haare ab, und sie tätowiert sich die Stinkefinger-Parole „Hurensohn“ auf den Bauch. Tolle Manöver der Komplettabsage; Zeichen auch, die die Seele dieser Frau aussenden will. Der Körper. Versetzt man sich in die Lage des in diesem Buch nur am Rand auftauchenden Mannes, der sicher nicht freiwillig nun in einem Roman seine Rolle zu spielen hat, könnte man als Leser aber nachdenklich werden.
Constance Debré: Wenn ich meinen Sohn nicht sehen darf, dann halt nicht
Mütter werden dies fraglos sowieso. Denn die eigentliche Ungeheuerlichkeit, dieser Tatsache ist sich die Autorin überbewusst, ist die Abkehr Debrés von ihrem Sohn, die unweigerlich zu ihrem neuen existenziell sexuellen und künstlerischen Lebensstil gehört. Die Heldin in diesem Buch kämpft lange mit rechtlichen Mitteln um ihr Kind. Sie gibt aber zu, dass ihr Leben allein fürs Schreiben (und den Sex) nur ohne ihren Sohn so möglich ist. Der moralisierende Teil im Leser will dieses Eingeständnis auch als Reaktion auf die Repressalien durch die Gegenseite lesen: Wenn ich meinen Sohn nicht sehen darf, dann halt nicht.
An das Verhalten eines Mannes, der seine Familie verlässt, würde man ganz andere Maßstäbe anlegen. Es ist offensichtlich, dass dies einem falsch vorkommen muss. Aber vielleicht würde man die Zeilen, mit denen Constance Debré ihren bekenntnishaften Text beginnt, der in einer großen literarischen Tradition steht, genauso angefasst lesen, würde er von einem Mann stammen (und aus der „Mutter“ ein „Vater“ werden): „Warum sollte die Liebe zwischen einer Mutter und einem Sohn nicht genau wie jede andere sein? Warum sollten wir nicht aufhören können, einander zu lieben? Warum sollten wir uns nicht trennen können? Warum nicht ein für alle Mal auf die Liebe pfeifen, die sogenannte, in all ihren Formen, auch dieser?“
„Love Me Tender“ ist ein Stück kraftvoller Literatur, deren Sprengkraft sich aus ihrem Thema ergibt. Ein verstörendes, gleichwohl faszinierendes Buch. Es wird nicht viele dieser Art in diesem Jahr geben.