Hamburg. Vor zehn Jahren starb Hamburger Schriftsteller Siegfried Lenz. Jetzt erscheinen tatsächlich bislang unveröffentlichte Texte als „Dringende Durchsage“.

Den Lenz-Slang gibt es; wer Romane wie „Heimatmuseum“ und „Deutschstunde“ gelesen hat, weiß das. Siegfried Lenz ist jetzt seit zehn Jahren tot. Er starb am 7. Oktober 2014 im Alter von 88 Jahren. Eine Straße ist in Hamburg bedauerlicherweise immer noch nicht nach ihm benannt. Aber gelesen wird er immer noch, kann gar nicht anders sein, besonders „Deutschstunde“ ist ein zeitloser (Unterrichts-)Stoff, zum Beispiel.

Und nun erscheint genau zehn Jahre nach seinem Tod ein Band mit bisher unbekannten und meist unveröffentlichten Texten. Für Lenz-Fans sicher eine Sensation, in literaturwissenschaftlicher Sicht allemal interessant und für Komplettisten ein Muss. Versammelt sind 34 Erzählungen, die größtenteils sehr kurz sind. Man begegnet bei der Lektüre einem Autor, dessen Ruhm erst noch bevorstand und der seinen Ton noch suchte. Was aber den Sound angeht, finden wir bereits stellenweise bereits den ganzen Lenz: In der in zwei Versionen vorliegenden ersten Geschichte „Heimweh oder so etwas Ähnliches“, einer Heimkehrer-Klamotte, geht es um einen Soldaten, der wieder zu Hause ist, aber auf der letzten Etappe seiner Stiefel verlustig gegangen ist. Auf kuriose Weise sind sie in die Hände seiner Frau geraten. Die findet den Zufall zu Recht sehr sonderbar – „und stellte die Stiefel mit beachtlicher Scheu auf den Fußboden“.

Neues Buch von Siegfried Lenz: Erzählungen aus der Nachkriegszeit

„Beachtliche Scheu“ also – das ist herrlichstes Lenzisch. Memo: Unbedingt mal wieder das Wort „beachtlich“ verwenden. Die Erzählungen in „Dringende Durchsage“ sind thematisch in der Nachkriegszeit angesiedelt; der Autor bildet die Welt ab, die er zwischen 1948 und 1957 (in diesen Jahren erschien das Gros der Geschichten) vorfand. Recht schnell entwickelt er einen avancierteren Stil. In einer Story klingt Nachkriegsmentalität so: „Sie empfingen die obligatorische Injektion Nihilismus und empfanden die rätselhafte Lähmung vor dem Anfang. Aber sie atmeten Katakombenluft und spürten die Chancen der Ruinen, sie ahnten, wo die ‚Schätze des Nichts‘ zu finden wären“.

Unbekanntes von Siegfried Lenz!
Das Cover von „Dringende Durchsage: Erzählungen“. Hoffmann und Campe. 192 S., 25 Euro. © Hoffmann und Campe Verlag | Hoffmann und Campe Verlag

Die kurzen Prosastücke – Lenz arbeitete in der Zeit ihrer Entstehung als Journalist bei der „Welt“ und dem NDR – stammen aus der Zeit, in der Lenz an seinem Romandebüt „Es waren Habichte in der Luft“ arbeitete oder dieses gerade erschienen war. Die Erzählung mit den Schuhen schrieb er in Bargteheide, wie die Germanistin und Lenz-Expertin Maren Ermisch in ihrem kenntnisreichen Nachwort mitteilt. Später zog Lenz nach Hamburg und wurde in Othmarschen heimisch. Die hier versammelten Storys gewähren Einblicke in eine Gesellschaft, in der gerade die brutal miteinander umgingen, die im Krieg gewesen waren. Hatten sie das Glück, aus der Gefangenschaft zurückzukehren, erpressten sie sich gegenseitig mit dem Wissen um das, was sie alle im Krieg getan hatten. Nazis blieben sie, auf manche Weise, für immer.

Siegfried Lenz: Gala zum zehnten Todestag im Altonaer Theater

Man empfängt beim Lesen manchmal Kafka-Schwingungen, fühlt sich aber auch daran erinnert, dass Lenz mal einen Essay mit dem Titel „Warum ich nicht wie Hemingway schreibe“ veröffentlichte. Dass zu der Lektüre des Siegfried Lenz auch Camus, Sartre und Faulkner zählten, versteht sich. Die Genannten waren in jener Zeit schwer angesagt und sind Säulenheilige bis heute geblieben. Lenz hat schwerlich ihre Größe erreicht, aber ein Großer ist er dennoch geworden.

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Weshalb er in seiner Heimatstadt Hamburg (geboren ist er in Ostpreußen) nun gebührend gefeiert wird. Gerade wurde die irische Schriftstellerin Claire Keegan mit dem Siegfried Lenz Preis 2024 (dotiert mit 50.000 Euro) der Stadt ausgezeichnet, am 6. Oktober findet im Altonaer Theater, das sich in dieser Saison großflächig dem Autor widmet, eine formvollendete Lenz-Gala statt. Kultursenator Carsten Brosda wird zu Gast sein, es gibt eine Lesung aus Lenz‘ Werk unter der kundigen Führung von Günter Berg, dem Chef der Lenz-Stiftung. Außerdem werden Ausschnitte aus den demnächst in Altona zu sehenden Lenz-Adaptionen gezeigt. Die „Heimatmuseum“-Bühnenfassung aus der Feder von Theaterintendant Axel Schneider hat am 3. November Premiere, es folgen eine Neuinszenierung der Komödie „Das Gesicht“ sowie mehr als ein Dutzend sonntägliche Matineen (zu Themen wie „Lenz und die Liebe“ oder „Der Radiomann Lenz“). Der Musiker Stefan Gwildis ist auch Lenzianer: Am 7. Oktober feiert seine Hommage „So zärtlich war der Lenz“ im St. Pauli Theater Premiere.

Siegfried Lenz und Helmut Schmidt: Was der RAF-Terrorismus mit ihrer Freundschaft zu tun hatte

Im Erzählungsband „Dringende Durchsage“ sind auch einige Stücke, die Lenz als Geschenk für Freunde schrieb. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang besonders die Erzählung „Wie Radikalität entsteht“, die Lenz für seinen Freund Helmut Schmidt verfasste. Sie erschien 1986 in einer Festschrift zum 70. Geburtstag des Ex-Kanzlers und sollte vom Radikalismus handeln, einem Thema, das wegen der RAF die Amtszeit Schmidts bestimmte. Zu einem nichts weniger als denkwürdigen Treffen im Bonner Kanzlerbungalow hatte Schmidt am 16. Oktober 1977 Siegfried Lenz, Heinrich Böll, Max Frisch und Siegfried Unseld eingeladen, während gleichzeitig die Stürmung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ in Mogadischu geplant wurde. Schmidt verließ, so geht die Legende, immer wieder den Raum, seine Gäste ahnten nichts von dem Geschehen.

„Wie Radikalität entsteht“ handelt übrigens vom Umweltaktivismus, nicht von der RAF. Wie er die Gesellschaft künstlerisch genau untersuchte, unterlag immer der Freiheit Siegfried Lenz‘. Die vorletzte Erzählung „Die Flöte. Eine Versöhnung“, die Lenz je schrieb, widmete er seiner zweiten Frau Ulla Lenz. Sie ist ebenfalls in diesem Band enthalten. Die letzte Erzählung, „Das Wettangeln“, erschien in einer schönen eigenen Ausgabe in Lenz‘ Stammverlag Hoffmann und Campe bereits 2015.

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„Dringende Durchsage“ könnte tatsächlich das allerletzte „neue“ Buch von Siegfried Lenz sein. Wer ihn bislang noch nicht entdeckt hat, sollte das nun dringend tun. Und nach diesen Erzählungen, die die spätere Meisterschaft andeuten, gleich „Deutschstunde“ lesen.