Hamburg. „Villa Sternbald“ ist ein gewaltiges, tief hinabsteigendes Familienepos, das unterhaltsam ist, etwas wagt – und viele Leser verdient.
Es ist die Dachkammer, in der sich Nikolas Finck einrichtet. Aus Berlin ist er in seine fränkische Heimat zurückgekehrt, nach langer Zeit. Ein Dorf bei Nürnberg, die Fincks sind eine Möbel-Dynastie, ganz alter Kaufmannsadel. Aber in der Geschichte dieser Familie rumort das Böse, das über Deutschland kam. Und so steigt Nikolas zumindest metaphorisch in die Kellergewölbe hinab, ganz tief, in den Morast einer Gesellschaft und ihrer Vorläufer.
Davon handelt der neue, große Roman der Autorin Monika Zeiner, die aus Würzburg stammt und in Berlin lebt: von Schuld und ihrem Nicht-Vergehen. Von dem, was sich in der Genealogie einer Familie festsetzt und irgendwann nach außen muss, wenn einer kommt und den Wall der Verdrängung einreißt. Nikolas, der Drehbuchschreiber, ist das schwarze Schaf, der Einzelgänger, der sich der Familie seit Jahrzehnten entziehende Sohn, der in der Gegenwart von den Geistern der Vergangenheit heimgesucht wird. Das Firmenjubiläum wird vorbereitet, und der in seinem Leben gestrandete Mann ist plötzlich ein Tiefengräber in den Schächten der eigenen Historie.
Neues Buch von Monika Zeiner: Einbettung in die Geschichte der Vorfahren
Diese Retrospektive, in der der Protagonist von seiner Schulzeit, seiner Kindheit und Jugend berichtet, ist eingebettet in die Geschichten von Ferry, Jean und Henry Finck, den Vorfahren. Sie sind Männer, die von Kaiserzeit und Nationalsozialismus geprägt und autoritär erzogen wurden – und selbst erzogen. Es ist die deutsche Geschichte, die sich in dieser Familie spiegelt: Als die Konkurrenzfirma der Steins arisiert wird, sind die Fincks die Nutznießer. An dieser Schuld arbeitete sich der junge Nikolas ab, und der ältere – in der Erzählgegenwart ist er 42 Jahre alt – tut es auch.
In einer opulenten, weit ausholenden Erzählbewegung inszeniert Zeiner die deutsche Kunst der Verdrängung als aussichtslosen Kampf eines Außenseiters. Nikolas gilt als das ewige Sorgenkind der Familie, dabei hat er nur, als heldenhafter Einzelner, das getan, was als das moralisch einzig Richtige erscheint: die Seinen mit der Schuld konfrontieren, die sie auf sich geladen haben. „Villa Sternbald“ ist ein Coming-of-Age-Roman, Familienepos und Geschichtsbuch. Zeiner webt einen dichten Stoff nach Thomas-Mann-Art, ist also konsequent im gut abgehangenen, altmodischen realistischen Erzählen unterwegs.
„Villa Sternbald“ von Monika Zeiner: Familienscharmützel und Kindheitsmuster
Dabei switcht sie virtuos zwischen der Ich-Perspektive ihres Anti-Nazi-Tragöden und der distanzierteren Erzählung von dessen Vorvätern. Die Linie, die von einer Generation zur anderen führt, transportiert ein Erfahrungskontinuum weiter, das aus der autoritären Kaiserzeit stammt. Was die gewalttätigen Kindheitsmuster angeht, erinnert „Villa Sternbald“ an Hanekes preisgekrönten Film „Das weiße Band“. Der Erzählbogen bläht sich nie unnötig auf, mit den Familienscharmützeln auch in der Gegenwart sind die Kapitel auf anspruchsvolle, unterhaltsame Weise prall gefüllt.
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Und das soll kein Buchpeis-Material sein? Monika Zeiner stand ja sogar schon einmal auf der Shortlist, 2013 gleich, mit ihrem Breitwand-Liebesroman „Die Ordnung der Sterne über Como“. Elf Jahre später erscheint nun endlich der Nachfolger, ein mit Blick auf die Ambition der Autorin durchaus wagemutiges Werk. Ein Werk, das in einer Zeit, in der Fremdenhass und Anitsemitismus alltägliche Phänomene sind, Aktualität beanspruchen darf. Ein Werk, in das der Verlag, in dem es erscheint – dtv in München – ziemlich zu Recht große Hoffnungen setzte.
Auf die Longlist hätte „Villa Sternbald“ zwingend gehört, vielleicht sogar auf die Shortlist. Wer die nicht schlechte, wie immer überraschende (das Allerüberraschendste wäre, eh klar, jedoch eine Longlist mit vielen großen Namen) Top 20 für den Deutschen Buchpreis 2024 im Groben kennt, der weiß: Zeiners Roman hätte der Auswahl gut zu Gesicht gestanden. Dass er so schmählich ignoriert wurde, ist rätselhaft.
Die Lust am Aufblenden der Geistesgeschichte, die sich in den vielen Dialogen äußert, fügt sich in diese Geschichte einer moralischen Verfehlung. Es waren die Kultivierten, die den Nazis den Weg ebneten. Das mag man alles für längst bekannt, ja ein Klischee halten. Aber es soll ja auch jüngere Leserinnen und Leser geben, die von der Totalkapitulation einer Gesellschaft vor dem Einfall des Bösen noch nicht so viel gehört haben. Mit diesem Buch, das gleichzeitig von der Flucht eines Mannes vor seiner und in seine Familie und Familiengeschichte erzählt, gibt es jetzt den literarischen Pageturner als Begleitmaterial zur Geschichtsstunde.
Monika Zeiner stellt ihren Roman „Villa Sternbald“ am 23. Oktober im Hamburger Literaturhaus vor.