Hamburg. Mode, die immer mehr war als nur Kleidung: Der Bildband „Jil Sander by Jil Sander“ würdigt das Lebenswerk der Hamburger Modeschöpferin.

Das könnte sie gewesen sein, neulich, mitten auf dem Jungfernstieg. Offensichtlich darauf aus, nicht erkannt und erst recht nicht angesprochen zu werden. Sonnenbrille, dunkle Kleidung, so huschte kurz eine elegante blonde Frau durchs Bild. Und weg war sie. Jil Sander. Hamburgs „Queen of Lean“, legendär geworden durch ihre Mode, in der ganz wenig immer das Ein und Alles war. Farben, die einen nicht plump anbrüllten; Muster, wenn überhaupt, die nicht quälten. Selbstbewusste, reflektierende, smarte Lässigkeit. Klare Kanten und weiche Linien.

Detailversessenheit, bis hin zu der Frage, welche Form die Stangen haben mussten, an denen sie Mode in ihren weihevoll leer gefegten Beschwörungs-Tempeln für die Kundschaft inszenierte. Stil. Ikone. Nicht nur Hanseatinnen – aber die ganz besonders – wussten schnell, was ihnen der Schriftzug JIL SANDER auf dem Etikett eines weißen Hemds oder ihrem Lieblings-Parfüm-Flakon wert war.

Jil Sander
Einer von vielen Klassikern: das Parfum „Woman Pure“, in einem Flakon aus der Designwerkstatt des Hamburgers Peter Schmidt. © Peter Schmidt | Peter Schmidt

Weil es zu einfach und zu vorhersehbar gewesen wäre, pünktlich zu ihrem 80. Geburtstag im vergangenen Jahr einen prächtig aufgemachten Bildband als Hommage und Lebenswerk-Betrachtung herauszubringen, erscheint er eben jetzt, etliche Monate später, kurz vor dem 81. im November.

„Jil Sander by Jil Sander“ ist aber kein Werkkatalog im klassischen Sinne, auf Vollständigkeit oder Erklärungen pochend. Nicht nur ein beliebiges Lookbook, in dem man blättern könnte, als wäre es ein ordentlich nach Jahren kuratierter Kleiderschrank, von allem Unnötigem entschlackt. „Wie immer ging es mir bei aller Anstrengung darum, so zu tun, als ob wir nichts tun“, schrieb Sander ins Vorwort.

Stil-Ikone: Jil Sander, das Phantom der Mode

Dass Sanders Karriere als Modejournalistin begann, bis man der chronischen Besserwollerin nahelegte, dann doch selbst eine Kollektion zu entwerfen, prägt die Temperatur dieses Buchs: Zeigen, was war. Sander wird darin als Architektin porträtiert, die mit Stoffen dekonstruierte und mit Erwartungen an Mode und ihre Trägerinnen spielte. Konsequent also, dass mit Irina Boom eine ebenso prominente wie radikale Buchgestalterin dazukam, um Sanders Kunst angemessen konsequent auf Papier zu bringen.

Jil Sander
Eine Marke braucht ein Gesicht? Jil Sander gab ihres dafür preis. © International Center of Photography and Scavullo Trust Beneficiaries | International Center of Photography and Scavullo Trust Beneficiaries

Die ebenso lakonisch wie poetisch gehaltenen Bildtexte und Mini-Essays der Journalistin Ingeborg Harms zeigen großes Verständnis und Mitgefühl für Sanders Sicht auf die Welt, auf Stoffe und auf Körper. Selbst ein so steiler Satz wie „Wenn die Linie zur Umlaufbahn des Körpers wird, erinnert sie in ihrer mathematischen Kühle an Niels Bohrs Atom-Modell“ liest sich dabei problemlos und richtig weg. Es gibt nun mal einen Unterschied zwischen Kleidung und Mode.

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„Ich denke mit den Augen“, sagte Sander einmal über ihre Stärken, „ich kann wirklich sehen wie der Blitz.“ Wie gut sich diese Aufmerksamkeit sehr unalltäglichen Bewegungen anpassen kann, zeigten die Kostüme, die Sander den Ballett-Körpern in John Neumeiers Inszenierungen anpasste.

Und natürlich dürfen in dieser Hommage die gläsernen Coolness-Tresore nicht fehlen, in denen der Hamburger Designer Peter Schmidt wieder und wieder Sanders Düfte beheimatete. Bloß nichts Schnörkeliges, Verspieltes, Aufgerüschtes. Bauhaus zum Anziehen, manchmal, und genauso Science-Fiction-Utopien für den Kleiderbügel im Hier und Jetzt.

Gut geschnitten sind auch die zeitlosen Fotos in diesem Bildband

Helmut Lang, ein ästhetisch verwandter Österreicher, etwas jünger, aber ähnlich für sein Understatement vergöttert, hat sich schon vor Jahren zum bildenden Künstler verpuppt und ins Irgendwo an der US-Ostküste versteckt, um in Ruhe unsichtbar zu sein. Sander privatisiert an der Außenalster, sie hat ihre Marken-Welt inzwischen verkauft und sich mehrfach zurückgezogen, und damit auch jenen Teil des Mythos, der nicht ausdrücklich sie selbst ist.

Hin und wieder entwirft sie für günstigere Preise gut gestylte Gebrauchsmode für den japanischen Konzern UNIQLO, um das Andenken an sie kurz aufflackern zu lassen und weil das Modemacherinnen-Muskelgedächtnis ja nicht das Denken einstellt, das ging noch.

Jil Sander
Supermodel, von Super-Fotograf abgelichtet: Peter Lindbergh machte 1994 dieses Kampagnen-Bild von Amber Valletta. © Peter Lindbergh Foundation | Peter Lindbergh Foundation

Gut geschnitten sind auch die vielen zeitlosen Fotos in diesem Bildband, der erst spät mit Blicken hinter die Kulissen enthüllt, wie viel Handwerk und letztlich auch Vermarktung in dieser schnelldrehenden Kunstform steckt. Dekorative Gesamtansichten eines Looks sind über weite Bildstrecken eher Nebensächlichkeiten. Einzelheiten, Stoffverläufe, Nähte oder Falten, geometrische Formen sind viel wichtiger als irgendeine Ablenkung von der äußeren und inneren Haltung dieser Mode durch Model-Körper. Sanders Mode war immer drastisch modern, ihren Zeiten voraus.

Jil Sander
2010 entstand dieses Bild während der Arbeit für eine „+J UNIQLO“-Kollektion. © Greg Harris | Greg Harris

Sie wollte nicht nur als Körperschmuck gesehen oder als Luxusartikel bewundert werden. Das ergab sich von ganz allein, sobald man verstand, dass es eben um viel mehr ging als um Hüllen für Menschen. Ein Satz im Epilog, der von „zeitwahren Formen“ spricht, bringt Sanders Lebensleistung auf den Punkt: „Was bleiben wird, ist der Wunsch nach Neuerfindung durch Kleidung.“

Buch: „Jil Sander by Jil Sander”, 320 S., 200 Farbabb., Prestel Verlag, 100 Euro.

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