Hamburg. Der neue Ballettintendant Demis Volpi stellt sich mit diversem Abend vor: „The Times Are Racing“, angenehm uneitel, begeistert bejubelt.
Man tritt John Neumeier nicht zu nahe, wenn man feststellt, dass das Hamburg Ballett unter seiner Leitung nicht unbedingt eine Spielwiese für unterschiedliche künstlerische Sprachen war. Praktisch alle großen Stücke des Ensembles choreografierte der Meister selbst, und wenn er mal einen Gast engagierte, wie vorige Saison Cathy Marston für „Jane Eyre“, dann war von vornherein klar, dass der in seinem Geiste arbeiten würde.
Jetzt aber ist die Ära Neumeier zu Ende, nach sagenhaften 51 Jahren, neuer Intendant ist Demis Volpi. Und der führt sich mit einem Statement ein – „The Times Are Racing“, ein vierteiliger Abend, bei dem ganz unterschiedliche Künstler ihr Können zeigen. Unterschiedlich, im Sinne von: Da liegen ästhetische Welten zwischen den vier Stücken.
Eröffnung an der Staatsoper: Ballett in Hamburg zeigt Pina Bauschs „Adagio“
Das Vorabplakat zeigt vier Tänzerfüße: einen im Spitzenschühchen, einen nackt, einen im Lackschuh, einen im Sneaker. Und das weist schon darauf hin, in welche Richtung es künstlerisch in Zukunft an der Staatsoper geht: in mindestens vier Richtungen. Im Zentrum steht nicht mehr der alte Streit zwischen Ballett und Tanztheater, zwischen Barfuß oder Ballerina, im Zentrum steht die Fußarbeit.
Der nackte Fuß jedenfalls zeigt in Richtung Pina Bausch. Mit dem ersten Stück des zweieinhalbstündigen Abends hat Volpi einen Coup gelandet: Bauschs „Adagio“, entstanden 1974, ein Jahr, nachdem die Jahrhundertchoreografin Ballettchefin in Wuppertal geworden war (und ein Jahr, nachdem Neumeier nach Hamburg kam). Das Stück zur Musik Gustav Mahlers wurde seit Jahren nicht mehr getanzt, einstudiert hat die Rekonstruktion die ehemalige Bausch-Tänzerin Josephine Ann Endicott, die schon vor 50 Jahren in Wuppertal mit dabei war.
Langsam bauen sich Bilder auf, eine Pietà, ein Berühren, ein kurzer Kampf – formal bewegt sich „Adagio“ noch in den Konventionen des Balletts, 1974 hatte Bausch noch nicht ihre eigene Tanztheater-Sprache entwickelt, aber unter den minimalistischen Bewegungen spürt man schon ein Brodeln und eine Wut, die darauf verweisen, was demnächst kommen sollte.
Publikumslieblinge mit Pas de deux mit perfekter Figur
In Hamburg kommt aber erst mal „Variations For Two Couples“, ein doppelter Pas de deux, den der große Stilist Hans van Manen 2012 fürs niederländische Nationalballett choreografierte. Hier tanzen die schon lange am Hamburg Ballett engagierten Madoka Sugai, Alexandr Trusch, Ida Praetorius und Matias Oberlin, Publikumslieblinge, deren Performance ein bisschen darüber hinwegtäuscht, dass van Manens Stilbewusstsein auch einen Zug ins Geschmäcklerische haben kann.
Allerdings: Faszinierend ist das schon, wenn die Tänzer zu Benjamin Brittens von Dirigent Vitali Alekseenok zerbrechlich-sensibel interpretierten Streichquartett in F-Dur Annäherung und Abstoßung tanzen. Und plötzlich gelingt Sugai und Trusch eine nahezu perfekte Figur – Szenenapplaus.
Ballett Hamburg: Volpi zeigt sein Düsseldorfer „Thing With Feathers“
Und eine Messlatte, die ganz schön hoch liegt für den Beitrag des neuen Hausherrn Demis Volpi. „The Thing With Feathers“ hatte dieser 2023 für seine damalige Wirkungsstätte in Düsseldorf kreiert, als sachte modernisierte Neoklassik, die sich entlang von Emily Dickinsons Gedicht „Hope“ bewegt. „Die ,Hoffnung‘ ist ein Federding“ heißt es da, als Hymne auf einen kleinen Vogel, der mit seinem Gesang einem Sturm trotzt, aber in Volpis Choreografie stürmen Körper erst einmal leidenschaftlich in Richtung Rampe, um gleich darauf hoffnungslos wie von unsichtbaren Gummizügen zurück ins Dunkle gezogen zu werden.
Das sind starke Bilder, auch wenn sie nicht besonders originell sind, sie sind aber auch eine Gelegenheit für das in Teilen neu zusammengesetzte Ensemble, sein Können zu zeigen. Der schon länger in Hamburg tanzende Alessandro Frola und der aus Düsseldorf an die Elbe gewechselte Jack Bruce jedenfalls harmonieren perfekt miteinander, und Volpi beweist, wie geschickt er Rhythmen miteinander zu kombinieren versteht.
Ballett in Hamburg tanzt „Sneaker-Ballett“ mit Breakbeats
Nach der zweiten Pause folgt als Höhepunkt das Titelstück „The Times Are Racing“ von Justin Peck, entstanden 2017 fürs New York City Ballet, wo Peck Hauschoreograf ist. Auf den ersten Blick die radikalste Setzung des Abends: Getanzt wird in Alltagskleidung auf Turnschuhen, Volpi nennt das Stück ein „Sneaker-Ballett“, und statt des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg ertönen mit Dan Deacons „America“ hektische Breakbeats vom Band. Aber tatsächlich ist die Choreografie weniger verstörend als zunächst angenommen – Pecks Bewegungsrepertoire ist unerwartet nahe am klassischen Ballett, dass nicht auf Spitze getanzt wird, liegt mehr am groben Schuhwerk als daran, dass das hier nicht choreografiert wäre.
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Hier zeigt sich auch das Traditionsbewusstsein des gesamten Abends, der zwar einerseits in die Zukunft ausgreift, andererseits aber ganz genau weiß, auf welchen Ästhetiken er fußt. Die etwas kitschige Harmonieseligkeit von Pecks Gemeinsamkeitsentwurf freilich wird aufgefangen durch die Begeisterung, mit der sich das Ensemble in den mehr zeitgenössisch wirkenden als tatsächlich zeitgenössischen Tanz wirft – wenn Louis Musin und Caspar Sasse ein energiesprühendes Duett aufs Parkett legen, dann stellen sich jedenfalls keine Fragen mehr nach Moderne oder (Neo-)Klassik.
„Ich bin sehr glücklich, wenn Sie mit uns gemeinsam auf diese Reise gehen“, hatte Neu-Intendant Volpi in einer angenehm uneitlen Ansprache gesagt, kurz bevor sich der Vorhang hob. Nach diesem ersten, so diversen wie in sich stimmigen und vom Publikum mit minutenlangen Standing Ovations begeistert bejubelten Abend, kann man sagen, dass man sich auch darauf freut, was die Reise des Hamburg Balletts nach der Ära Neumeier so zu bieten hat.
The Times Are Racing Wieder am 29.9., 18 Uhr, 17., 18., 23. und 24.10., 19.30 Uhr, 27.10., 15 und 19 Uhr, Hamburgische Staatsoper, Große Theaterstraße 25, Tickets unter 356868, www.hamburgballett.de