Hamburg. Soul-Man Stefan Gwildis hat auf St. Pauli mit Lenz-Programm Premiere, das Altonaer Theater eröffnet Werkschau mit Schauspielstars. Und das Ohnsorg?
Der Lenz ist da. Und das richtig. Dafür musste erst der Oktober kommen: Am 7. Oktober, dem zehnten Todestag von Siegfried Lenz (1926–2014), hat sich nun auch Hamburgs Soul-Man Stefan Gwildis erstmals öffentlichkeitswirksam dem Hamburger Ehrenbürger und bedeutenden Schriftsteller gewidmet.
Und steht damit nicht allein: Auch in den Häusern des hanseatischen Multi-Intendanten Axel Schneider, allen voran im Altonaer Theater, heißt es „Lenz auf die Bühne“. Und zwar, man höre, lese und schaue, mit Unterbrechungen für die nächsten eineinhalb Jahre.
„Der Lenz ist da“, lautet auch die letzte Zeile des Liedes, mit dem Stefan Gwildis am Montag im St. Pauli Theater seinen Abend beginnt. Der erste optische Gag mit einer sich selbst entzündenden, für den Autor typischen Pfeife auf einem Sockel im Lichtkegel verpufft zwar (und funktioniert erst in der zweiten Hälfte). Jedoch macht der Sänger und Schauspieler Gwildis schnell deutlich, dass er einen persönlichen Zugang zu Lenz gesucht und gefunden hat.
Siegfried Lenz: „Literatur-Papst“, in Altona und auf St. Pauli mit Stefan Gwildis neu entdeckt
Mit dem Autor teilt er nicht nur die Liebe zum Wasser. Auch sein Vater sei wie Lenz 1926 geboren, nur noch etwas weiter im Osten als der Schriftsteller. Beide Männer kamen als Teenager zum Ende des Zweiten Weltkriegs zur Marine und anschließend nach Hamburg. Hier wurden sie sesshaft.
„So zärtlich war der Lenz“, hat Gwildis seine Hommage für den großen Erzähler genannt. Eine Anspielung auf dessen masurische Geschichten, „So zärtlich war Suleyken“, mit denen Lenz Mitte der 1950er hierzulande seinen ersten Erfolg hatte. Als Rezitator trifft Gwidils, der sich in vorigen Programmen den hiesigen Dichtern Theodor Storm und Wolfgang Borchert gewidmet hat, in wechselnden Tonlagen und Rollen den ostpreußischen Dialekt. Den norddeutschen ohnehin, wenn er aus „Der Mann im Strom“ liest.
Premieren-Panne: Zweimal vertut sich Stefan Gwildis fast in der Reihenfolge
Manchmal grenzwertig, wenn auch für viele im fast ausverkauften St. Pauli Theater erheiternd, wird’s, wenn Gwildis Parodien auf Lenz’ politische Freunde Helmut Schmidt und Willy Brandt sowie auf den legendären Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki ins Programm einbaut.
Aber wer wie Gwildis dem von ihm so betitelten „Literatur-Papst“ Lenz huldigt, mag nicht allein mit der Sprache spielen. Tobias Neumann (Klavier) und Hagen Kuhr (Cello) begleiten ihn, untermalen die Lesepassagen oder korrigieren zur Not, falls sich der Entertainer bei seiner Premiere mit dem „kleinen Pralinenkasten“ an Zitaten des von ihm so verehrten Beobachters Lenz zweimal fast die Reihenfolge von Lesung und Lied verwechselt.
Die Liebe zum Detail wiegt das durchaus auf, sichtbar auch im Bühnenbild, mit Wäsche an einer Leine, mit Fotos von Lenz im Ruderboot und einem Masuren-Motiv. Sowie hör- und spürbar, als Gwildis ernst und äußerst eindringlich aus einem Kapitel des 2016 posthum erschienen Romans „Der Überläufer“ liest, in dem der junge Wehrmachtsoldat Proska einen Partisanen erschießt. Des Musikers Mahnung, dies solle am besten jeder Politiker, jeder Entscheider lesen, bevor er (oder sie) über Militär-Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro abstimme, stößt im Saal auf verhaltenen Beifall.
Umso größer ist dieser nach mehr als zweieinhalb Stunden inklusive Zugabe von alten und neuen Gwildis- und womöglich auch Lenz-Freunden. Der Applaus gilt auch Dramaturgin Sonja Valentin.
„Lenz auf die Bühne“: Intendant Axel Schneider und Co. widmen sich umfangreich dem Thema Heimat
Die freischaffende Künstlerin hat zudem wesentliche Vorarbeit für den Theaterbetrieb Axel Schneiders geleistet. Gleich 14 Matineen werde es vom 3. November an jedem ersten Sonntag des Monats in den Kammerspielen geben, hat der Multi-Intendant am Vorabend bei der Eröffnungsgala der Werkschau „Lenz auf die Bühne“ in Altona angekündigt. 96 Veranstaltungen sollen es in den nächsten eineinhalb Jahren bis zu Lenz’ 100. Geburtstag am 17. März 2026 werden.
Und so staunt und lobt auch Kultursenator Carsten Brosda (SPD), dass sich Schneider und sein Team derart umfangreich dem Schaffen des Hamburger Ehrenbürgers widmen, und fragt auf der Bühne in seinem Grußwort, was eigentlich Heimat ausmache – ein Thema, das sich durch Lenz’ Werk zieht. „Heimat kann sich verändern“, konstatiert Brosda. „Und Hamburg ist für Siegfried Lenz Heimat geworden.“ Wie heutzutage für viele andere Menschen nach Krieg, Flucht oder Vertreibung. Damit, so Schneider und Brosda unisono, seien Lenz’ Werke bis heute aktuell. Mehr denn je.
„Die Deutschstunde“ wird von Lenz zunächst selbst gelesen, dank alter Aufnahme
Im Altonaer Theater bringen bei der gut zweistündigen Gala ohne Pause gleich 15 teils überaus prominente Schauspieler Lenz’ Werke den Gästen näher. Günter Berg, Vorsitzender der Siegfried Lenz Stiftung, moderiert den Abend meist kursorisch, jedoch (er-)kenntnis- und detailreich mit wichtigen Stationen des Dichterlebens. Ob Romane, Novellen oder Theaterstücke, der feinsinnige und vielfältige Großschriftsteller lässt sich auf diese Art neu entdecken.
Johan Richter, in Altona aus der „Kempowski“-Saga und „Der Vorleser“ bekannt, liest zunächst aus Werken des jungen Lenz. Den fernsehbekannten Hamburger Hans-Werner Meyer („Letzte Spur Berlin“/ZDF) kündigt Berg danach als „Hans Werner Richter“ an, der Schauspieler stellt das sogleich selbstironisch richtig. Und Berg entschuldigt sein Versehen damit, dass Hans Werner Richter ja der Initiator der Gruppe 47 war. Jener bedeutenden bundesdeutschen Schriftstellergruppierung der Nachkriegszeit, der neben Kollegen wie Heinrich Böll oder Günter Grass eben auch Lenz angehört hatte.
„Wir spielen Bücher“ im Altonaer Theater: Bisher war Lenz nie dabei
Wie bei Gwildis im St. Pauli Theater dürfen auch in Altona Auszüge aus Lenz‘ bekanntestem Roman „Deutschstunde“ von 1968 nicht fehlen. Hier jedoch zunächst gelesen von Lenz selber (in einer Aufnahme von 1995), dann mindestens so beeindruckend, wenn auch in einer bedeutend tieferen Tonlage live von Schauspielerin Mechthild Großmann („Tatort“). Ihre Kollegin Katharina Wackernagel („Mord mit Aussicht“) hat Schneider für die Gala ebenfalls engagiert.
Dass der Intendant und Regisseur mit einem halben Dutzend Darstellern Neugier auf seine Uraufführung vom „Heimatmuseum“ am 3. November machen will, ist nur konsequent. Ungewöhnlicher ist, dass mit „Das Gesicht“ auch eine Lenz-Komödie aus dem Jahr 1962 am 8. November im Harburger Theater (Regie: Georg Münzel) Premiere feiert. Herbert Schöberl, Kai Hufnagel und Heidi Züger machen in voller Kostümierung Appetit. „Seit fast 20 Jahren heißt unser Motto in Altona: ,Wir spielen Bücher‘. Lenz war noch nie dabei“, sagt Axel Schneider. „Es wird Zeit.“ Als vorgezogenes Geburtstagsgeschenk zum 100. steht in den Kammerspielen am 15. März 2026 die Uraufführung von „Der Überläufer“ auf dem Spielplan.
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Wie dem Abendblatt bekannt wurde, plant auch das Ohnsorg-Theater zu Lenz’ 100. Geburtstag im März 2026 etwas Besonderes: Die „Deutschstunde“ soll auf Platt- und Hochdeutsch Premiere feiern. Und so – nach den mit Hamburger Theaterpreisen bedachten Produktionen „Dat Füerschipp“ (2023) und „De Mann in’n Stroom“ (2018) – die aufgrund der Corona-Pandemie zeitlich gestreckte Lenz-Trilogie vollendet werden.
„Heimatmuseum“ UA So 3.11., 19.00, Altonaer Theater; „Das Gesicht“ Premiere Fr 8.11., 19.00, Harburger Theater; „Der Überläufer“ UA 15.3.2026, Matinee-Reihe: ab So 3.11., 11.00, mit „Herkunft, Heimat, Hamburg“ (Lesung: Burghart Klaußner), jeden 1. So des Monats, Hamburger Kammerspiele; komplettes Programm und Karten unter www.lenz-auf-die-buehne.de
Stefan Gwildis: „So zärtlich war der Lenz“ wieder 27.1.2025, 19.30, St. Pauli Theater, Karten unter www.st-pauli-theater.de