Hamburg. Der auch akrobatisch talentierte Jakub Józef Orliński gastierte mit Renaissance-Musik zum Thema Liebe in der Elbphilharmonie.
Bei seinem letzten hiesigen Termin, einem Liederabend in der Staatsoper im April, hatte er als Akrobatik-Zugabe ein Rad geschlagen. Jetzt, eine Bühne weiter in der Elbphilharmonie, gab es, auch nicht ohne, eine einarmige Handstand-Break-Einlage. Jakub Józef Orliński ist ein überaus smart agierender und begeisternd sich verströmender Countertenor mit steilem Karriereverlauf, bei dem solche Eskapaden nicht einstudiert und gewollt wirken, sondern ein Teil seiner impulsiven Bühnenperformance sein – können. Nicht müssen.
Wer sich mit dem auf zehn Instrumente verkleinerten Experten-Ensemble „Il Pomo d’Oro“ auf ein Konzept-Programm mit fast nur Klein- und Kleinstmeistern und entsprechend unerhörten Nischenstücken aus Renaissance und Barock einlässt, das sich dem ja ewig unerschöpflichen Themenbereich Liebe widmet, der kann keine minderbegabte Luftpumpe sein. Das flöge sofort auf. Schon nach der ersten Monteverdi-Arie aus „L’incoronazione di Poppea“, die gleich am Anfang stand.
Jakub Józef Orliński, der Countertenor der Herzen in der Elbphilharmonie
Ein Herz-Schmerz-Welt-Schmerz-Abend also sollte es sein, ohne Pause, fast ohne erkennbare Übergänge, mit einem Protagonisten, der die dankbare Aufgabe hatte, immer wieder neue Facetten zwischenmenschlicher Befindlichkeiten darstellen zu wollen. Bei den Instrumentalwerken (interessante Intermezzi von No-Names wie Johan Caspar Kerli oder Carlo Pallavicino) tanzte sich Orlinski zu dieser perlend kredenzten Musik von Charakter zu Charakter. Den dramatisch wallenden Umgang für seinen ersten Auftritt hatte er schnell abgelegt, mittendrin folgten auch die Schuhe und die Socken. Und in einer Episode huschte er barfuß mit einem Leuchtstab durch die Elbphilharmonie-Ränge, als wäre er Orpheus, der im Unterwelts-Dunkel des Saals nach seiner geliebten Eurydice fahnden würde.
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Klar, dass so etwas einen anderen, lebensnaheren, unterhaltsameren, relevanteren Eindruck macht als nur ein historisch bestens informiertes Absingen stilkorrekter Verzierungen unter besonderer Berücksichtigung aristokratischer Vorlieben an norditalienischen Fürstenhöfen. Hier wurden eindeutig keine verstaubten Diven mitsamt ihren Bravour-Stücken aus dem 17. Jahrhundert inszeniert, sondern vom Schicksal gebeutelte Menschen, deren Gefühlsregungen nicht seit etlichen Generationen verjährt oder gleich ganz antik sind.
So sportlich und energiegeladen, wie Orlinski seinen Körper als Ausdrucks-Verstärker einsetzt, so farbenreich und sinnlich singt er auch. Konditionsprobleme scheint er dabei nicht zu kennen, egal, wie virtuos die Herausforderungen des jeweiligen Stücks an seine geläufige Gurgel auch waren, Orlinski säuselte, trompetete, gurrte, litt und trauerte im Lichtkegel des Scheinwerfers unentwegt am Anschlag, ohne dabei überangestrengt zu wirken. Schade nur, dass Orlinski dabei, außer sich selbst, getragen von der feinsinnig und erlesen zum Leben erweckten Musik, kein leibhaftiges Gegenüber auf der leeren Bühne hatte. Manchmal, wie in Caccinis Liebeserklärung „Amarilli, mia bella“, genügte schon die Umgarnung von Orlinskis Stimme durch eine Barocklaute.
Die kleinen Show-Duelle mit dem Barock-Gitarristen waren ein amüsanter Einfall, ebenso die Verwandlung in eine gramgebeugte alte Frau mit entsprechend morscher Stimme. Erst nach vier Zugaben wollte das Publikum diesen Sänger mitsamt seinem Charisma zum Abkühlen in die Backstage-Garderobe lassen. Kann man verstehen.
Aktuelle CD: „#LetsBaRock“ (Erato / Warner, CD ca. 17 Euro, erscheint am 27.9.)
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