Hamburg. Von Wolf Biermann bis zur Antilopen Gang und Tim Mälzer: Gemeinsames Konzert gegen Antisemitismus in der Elbphilharmonie.
Als Michel Friedman die Bühne im Großen Saal der Elbphilharmonie betrat, um am Rednerpult seine Seele zu entblößen, platzierte sich wenige Meter weiter, neben der Bühne, ein auffallend unauffällig wirken wollender Mann, der das Geschehen im Raum genau beobachtete. So ist das jetzt in diesem Deutschland, vor gut 2000 still zuhörenden Menschen, nach wie vor, immer noch. Die andere, finstere Seite des Stammtischspruchs „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen!“ bedeutet, dass der Publizist Friedman längst nicht mehr ungeschützt sagen kann, was ihm Löcher ins Herz brennt, wieder und wieder, immer tiefer. „Manchmal bin ich traurig. Manchmal weine ich, sehr lang. Hass tut weh, Worte wie Messer“, brach es, so verzweifelt wie trotzig, aus ihm heraus.
„Gegen das Schweigen. Gegen Antisemismus“ war das Motto eines sehr besonderen (und sehr langen Abends), den der Pianist Igor Levit, inzwischen weit mehr als „nur“ Pianist, auch in diesen Saal als politischen und moralischen Einspruch hinein organisiert hatte. 17 Programmpunkte mit den unterschiedlichsten Gästen waren zusammengekommen, jede Menge gute, wahre, wichtige Sätze von allen, so vieles, was selbstverständlich ist und sein sollte. Und dennoch, dreieinhalb Stunden lang, blieb das unschöne Gefühl wie Mundgeruch im Raum, dass es einige Wochen nach den Wahlerfolgen extremer Parteien in Sachsen und Thüringen überall im Land viel zu viele gibt, da draußen vor den Saaltüren, die dieses Gute, Wahre, Wichtige dieses Abends eh nicht hören oder, schlimmer noch, nicht mehr verstehen oder wenigstens diskutieren wollen.
Igor Levit und Gäste – Feier des Miteinanders in der Elbphilharmonie
„Die schlechteste Demokratie ist mir lieber als die beste Diktatur“, mahnte Friedman weiter, und auf akute Parolen abzielend auch: „Ich habe noch nie vor der Vielfalt des Menschen Angst gehabt – wenn, dann vor seiner Einfalt.“
Vor einigen Jahren hätte er noch nicht geglaubt, dass so ein Abend notwendig werde, hatte Intendant Christoph Lieben-Seutter in seiner Begrüßung erklärt. Und Levit, der sich mit etwas Chopin warmspielte, kündigte einen Abend an, nach dem trotz der bedrückenden Thematik niemand gesenkten Hauptes herausgehen werde. War dann auch so.
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Nicht jeder der meistens kurzen Gastauftritte geriet in sich herausragend: Die Jazz-Sängerin Efrat Alony verlor sich – und wohl auch einen Teil des Publikums – in allzu frei ausschweifenden Improvisationsschleifen über barocken Inspirationen. Tim Mälzer, auch hier ein Schnacker vorm Herrn, gab offen zu, dass er gerade nicht so genau wisse, wie und warum ausgerechnet er in dieses Setting geraten sei, las aber dennoch das berühmteste Erich-Fried-Gedicht („Es ist, was es ist / sagt die Liebe“) vor und übergab zügig an einen weiteren begnadeten Schnacker, an Thees Uhlmann.
Schnacker Nummer drei, Olli Schulz, hatte sich kurzfristig mit Grippe krankgemeldet, aber nicht mehr ganz junge singende Männer mit Gitarren und speziellen Charakteren gab es dennoch einige: Dirk von Lotzow grübelte sich, ohne die Mitsängerin Soap&Skin, durch die zartbittere Tocotronic-Ballade „Ich tauche auf“. Einspruch-Altmeister Wolf Biermann gab zunächst am Flügel mit seinem Gedicht „Blutmond über Banyuls-sur-Mer“ einen sarkastisch knurrenden Moritaten-Barden, der in die Tasten drosch, bevor er mit „Und als wir ans Ufer kamen“ einen seiner vielen Klassiker nachlegte und klarmachte, warum er nach wie vor nicht fehlen darf, in jedem Chor der energisch vorgetragenen Aufklärung.
Die klassische, klein gehaltene Klassikfraktion vertrat NDR-Chefdirigent Alan Gilbert, diesmal nicht als Orchester-Führungskraft, sondern mit Bratsche als ein Drittel in Bruchs „Nachtgesang“. Chilly Gonzales arbeitete sich in Hausschuhen, an der Pauke und mit seinem „Fuck you, Richard!“-Rap am historischen Antisemitismus Wagners ab, einer historischen Braunpause für viele üble Denkmuster und Hassperspektiven, die dieser Hetze folgen sollten.
Als fester Bestandteil aus Levits engerem Freundeskreis war der vor allem in Berlin weltberühmte Malakoff Kowalski leibhaftig mit einigen weiteren verträumten Balladen dabei, begleitet entweder von Levit oder der Jazz-Pianistin Johanna Summer. Und als Textlieferant bekam auch der abwesende Autor Maxim Biller einen Auftritt, Levit las aus dessen geschliffen ironischem Selbstporträt „Der gebrauchte Jude“ vor.
Überhaupt, die Wortbeiträge, sie rundeten die künstlerischen Aussagen ab. „Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo zitierte zunächst aus einem Interview, das er im vergangenen Herbst, einige Wochen nur nach dem 7. Oktober, mit Levit geführt hatte, und anschließend aus Leserzuschriften, die sich mit dem Gesagten solidarisierten. Ronya Othmann las ein eigenes Gedicht; die Autorin, Filmemacherin und Aktivistin Düzen Tekkal beschrieb auch den Kampf der Kurden gegen ihre Verfolgung und die Unterdrückung der jesidischen Minderheit, zu der sie gehört. So viele Krisenherde, so viele ineinandergreifende Konflikte, so viel Notwendigkeit des Dagegenhaltens. „Die Schweigespirale macht mir Angst. Das muss aufhören!“, forderte Tekkal und zitierte Wolf Biermann, der kürzlich in einem Interview gesagt hatte: „Wir gehen kaputt auch an den Schlägen, die wir nicht austeilen.“
Seinen Solohit „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ hatte der Rapper Danger Dan nicht dabei, aber mit dem Rest seiner Band Antilopen Gang hatte er das allerletzte eindringliche Wort: In „Oktober in Europa“ heißt es an einer Stelle „Sie zieht die Kapuze tiefer ins Gesicht / Omas Kette mit dem Stern trägt sie lieber wieder nicht.“
Der Mitschnitt des Abends ist auf abendblatt.de abrufbar.