Hamburg. Das NDR Elbphilharmonie Orchester und Chefdirigent Alan Gilbert eröffneten ihre Spielzeit mit Schönbergs monumentalen „Gurre-Liedern“.

Um die 300 Mitwirkende, mehr als zwei Stunden Dauer, Mahlers monumentale Achte ist Schmalspur-Symphonik dagegen, und als Abschluss ein bis zum Anschlag ausgereiztes C-Dur-Jubel-Finale, bei dem einem fast die Plomben herausfallen? Einzig mögliche Antwort auf diese Klassik-Quiz-Frage: Arnold Schönbergs „Gurre-Lieder“. Ein spätestromantisches Mittelalter-Ritter-Eifersuchts-Spektakel aus der frühen Abteilung seines Werkkatalogs. Eine Zwei-Stunden-Schwarte, mit dem man jeden Schönberg-Skeptiker in Verwirrung stürzen kann, weil nichts von ihm weniger nach dem unausrottbaren Zwölfton-Schreckgespenst Schönberg klingt, das immer noch abschrecken kann. Also: ein nahezu unbezähmbares Meisterwerk eines Meisters der Disziplin und des musikalischen Ausdrucks. 

NDR-Chefdirigent Alan Gilbert, fröhlich bekennender Fan dieses so wandelbaren Komponisten, hat dessen Breitwand-Kantate als lehrreiche Herausforderung für alle im Großen Saal wohl genau deswegen an den Start seiner Konzertsaison in der Elbphilharmonie gestellt. Zwei Abende, damit es sich lohnt, die zweite Vorstellung pünktlich am Abend von Schönbergs 150. Geburtstag am 13. September. Die Bonusrunde ist ein Gastspiel beim Lucerne Festival an diesem Wochenende.

Elbphilharmonie: Ein Schönberg-Spektakel zum Saisonstart

Vor sieben Jahren – im Vergleich zu anderen Musikstädten kein schlechter Aufführungs-Schnitt – hatte Generalmusikdirektor Kent Nagano in der Elbphilharmonie-Eröffnungssaison diesen Brocken mit den Philharmonikern gestemmt. Jetzt aber, wohl eine Premiere, bot das NDR-Orchester per Newsletter zwei Tage vor dem ersten Konzert noch vorhandene Karten mit stolzen 30 Prozent Rabatt an. Der Schönberg-Fluch, er ist offenbar immer noch hartnäckig. Kleine Randbemerkung: In Wien, einer seiner Heimatstädte, feiert man den Jubilar noch opulenter, mit einer 400-Kopf-Chor-Klangwand hinter dem Riesenorchester statt „nur“ etwa 150 Stimmen in Hamburg.

Will man eine solche Riesenbesetzung ohne Streuverlust in der Konzentration zusammenhalten, braucht es keinen Dirigenten, der sich spontan, im Wogen des Moments, mitreißen und sich hübsch verspielte Dinge einfallen lässt, weil ihm gerade danach ist, es benötigt einen zielstrebigen Klang-Logistiker, der stur in der Spur bleibt. Gilbert tat sein Bestes, um dieser Anforderung gerecht zu werden. Einfach war das nicht, gelungen ist es ebenfalls nicht immer. Wobei die Schuld daran, dass diese Partitur sich oft jenseits einer verständlichen Aufführbarkeit entlangmäandert, eher nicht die des Dirigenten ist. 

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Thomas Quasthoff kurz vor seinem ersten Einsatz als Sprecher auf der Bühne des Großen Saals. © Sophie Wolter | Sophie Wolter

Denn in vielen anderen Sälen wäre garantiert noch weniger zu hören gewesen, was vor allem Simon O’Neill in seiner Partie als König Waldemar von sich und seinem Herzeleid zu röhren hatte. Allzu oft sah man, dass er sang, konnte aber nicht ausmachen, was, wären da nicht die Text-Projektion auf einen Rang-Balkon gewesen. Der Sopranistin Christina Nilsson erging es als Tove noch bemitleidenswerter, sie verstarb stimmlich im Tosen schon, bevor dieses Schicksal ihrer Rolle widerfuhr und sie von dieser Überforderung erlöst war. Beide standen auf einer strategisch günstigen Stelle erhöht im Orchester, aber letztlich doch auf verlorenem Posten. Jamie Barton dagegen hatte dort als Waldtaube mehr Glück, aber auch mehr Durchschlagskraft in ihrem metallisch soliden Mezzo.

Zwei Vorteile brachte Gilbert mit in diesen Hochrisiko-Abend: Massen kontrollieren liegt ihm, als Opern-Dirigent versteht er es, Sängern Freiraum und Atem-Freiheiten zu geben, anstatt sie als Mittel zum Zweck kurzzuhalten. Interessant, wie szenisch gestaffelt das erste Orchestervorspiel im riesigen Ausmaß der Instrumentation (vier Harfen, acht Flöten, Wagner-Tuben, so ziemlich alles, was ein Instrumenten-Lager hergibt …) eine Klang-Landschaft eröffnete, die farbenprächtig schillerte. Dass es an vielen Stellen großflächig und plakativ wagnerte, dass bei Schönberg mitunter der Spaß am Exzess des tatsächlich noch Machbaren ungebremst ausuferte – damit konnte Gilbert gut umgehen.

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So begab es sich dann auch im zweiten Teil dieses Schauermärchens, dass mehr und mehr mitreißende Dramatik in den Erzählfluss kam. Das Erscheinen des dreifach geteilten Männerchors nach der Devise, wer gruselt so spät durch Wind und Nacht, es sind die Untoten, mit voller Macht – irre, irre laut, aber eben deswegen toll. Überhaupt, die drei Chöre waren eine Wucht: MDR-Rundfunkchor, Rundfunkchor Berlin und das hauseigene NDR Vokalensemble sorgten für das nötige Volumen. Thomas Quasthoff als Sprecher in der Melodram-Partien war angemessen melodramatisch präsent. Und mit der „Strahlenlockenpracht“ der Sonne als Ganzkörpererlebnis in C-Dur endete ein Konzert der Superlative, ein Event, dass es hin und wieder geben muss, um Maßstäbe und Dimensionen der Musikgeschichte vor Augen und Ohren zu führen. 

Das Konzert wird am 13. September, 20 Uhr, im Großen Saal der Elbphilharmonie wiederholt und ist als Livestream auf www.elbphilharmonie.de abrufbar. Evtl. Restkarten. Doku: „Arnold Schönberg – Der rastlose Revolutionär“ Arte, 6. Oktober 23.25 Uhr und bereits jetzt bei Arte Concert