Hamburg. Zum 1. Akademiekonzert bringen Kent Nagano und das Philharmonische Staatsorchester ganze Hundertschaften mit in die Elbphilharmonie.
Wer hätte das gedacht, dass der Schwarze Block einmal die Ränge der Elbphilharmonie erobern würde? Im 1. Akademiekonzert des Philharmonischen Staatsorchesters sieht sich das Publikum einer steil aufragenden, monochromen Wand aus Menschen gegenüber. Allerdings wirft niemand Steine oder vermummt sich. Rund 270 Choristinnen und Choristen haben in den hinter der Bühne gelegenen Reihen Aufstellung genommen.
Elbphilharmonie: Kent Nagano und der Schwarze Block
Kent Nagano hat fünf Hamburger Laienchöre und den in Bayern ansässigen Chor der KlangVerwaltung eingeladen, beim Auftakt zu seinem persönlichen Finale dabeizusein. Die anbrechende Spielzeit ist seine letzte als Hamburgischer Generalmusikdirektor; nächsten Sommer übernimmt Omer Meir Wellber den Staffelstab. Seit Naganos Amtsantritt 2015 war die Philharmonische Akademie jedes Jahr gleichsam der Saisonbeginn vor dem Saisonbeginn. Das programmatische Bekenntnis des Orchesters zur Musikgeschichte der Hansestadt – aber auch zu seiner Einbindung in die Gegenwart.
Erdacht hatte das Konzept Naganos langjähriger dramaturgischer Weggefährte Dieter Rexroth, der im vergangenen April plötzlich gestorben ist. Auch das Programm der diesjährigen und letzten Akademie stammt noch aus seiner Feder. Eine Koinzidenz, die schaudern lässt. Rexroths Handschrift ist jedenfalls deutlich: Die traditionelle Werkfolge Ouvertüre – Solokonzert – Sinfonie hat in der Akademie nichts verloren; in diesem Rahmen dürfen die Größenordnungen wechseln und die Hörgewohnheiten und das Denken auflockern.
Bach ist für das verdi- und wagnergestählte Orchester nicht gerade Alltag
Schon 2015 erklangen im Akademiekonzert die Brandenburgischen Konzerte von Bach. Daran knüpfte Rexroth für diese letzte Ausgabe an; der Auftakt-Auftakt beginnt mit dem 1. Brandenburgischen. Barockmusik eben, für heutige Verhältnisse klein besetzt – und für das verdi- und wagnergestählte Philharmonische Staatsorchester nicht gerade Alltag. Nagano hat die Leitung Andreas Staier überlassen, einem der denkbar berufensten Originalklanginterpreten. Vom Cembalo aus nimmt Staier die philharmonische Auswahltruppe mit auf die Reise.
So idiomatisch wie bei den Spezialensembles wird der Klang nicht. Ein paar Winzigkeiten landen im Teich, und Staier hätte einige Figuren vermutlich gerne noch etwas sprachnäher gestaltet. Aber der Gesamteindruck überzeugt rundum. Der erste Satz – ein Bravo für die hochgelegenen und hochvirtuosen Hornpassagen – entfaltet bewegten Schwung. Im Adagio singen Oboe und Solovioline einander in großer Ruhe an. Am Ende des Satzes trickst Bach sein Publikum aus und serviert den Schluss in Häppchen: Erst sind die Bässe dran, dann die Bläser, dann die Streicher. Zögernd, mürbe, es ist ein harmonischer Blick in den Abgrund. Klar, dass Staier aus diesem Moment ein beinahe theatrales Erlebnis macht.
Der Pianist Rafał Blechacz hat es im kleinen Finger, wie viel Zeit er sich nehmen kann
Ein Kabinettstückchen ist das folgende Allegro. Da zeigt sich ein weiterer Trick in dieser faszinierend bunten Partitur: Der Konzertmeister Konradin Seitzer spielt nämlich auf einem Violino piccolo, einer etwas kleineren und eine Terz höher gestimmten Geige. So setzen sich die Doppelgriffe und Akkorde klanglich besser durch als im für Geigen nicht sonderlich bequemen F-Dur der Originalnotation. Und im letzten Satz, einem Menuett, machen die Holzbläser feinste Kammermusik aus dem Trio-Einschub.
Den Solopart des 3. Klavierkonzerts von Beethoven übernimmt Rafał Blechacz, der 2005 mit seinem spektakulären Sieg beim Warschauer Chopin-Wettbewerb weltweit Aufsehen erregte. Das ist ein bisschen her, aber sein lyrischer und zugleich kraftvoller Zugriff machen auch 2024 noch staunen. Ohne seine Kunst um ihrer selbst willen auszustellen, bringt Blechacz den Steinway zum Singen, artikuliert glasklar, hat es im kleinen Finger, wie viel Zeit er sich nehmen kann, um aus einer auf dem Papier symmetrisch aussehenden Achtelfigur etwas Lebendes, Atmendes zu machen und trotzdem mit den Holzbläsern zusammenzubleiben. Berückend das Spektrum an Anschlagsnuancen und Klangfarben, das er ausbreitet.
Das Orchester, jetzt in Beethoven-Größe, spielt so differenziert und fein abgetönt, wie es Naganos Stärke ist. Man kennt sich halt im Jahr zehn dieser Arbeitsbeziehung. Wozu auch gehört, dass die Musikerinnen und Musiker sich nicht auf die stellenweise unleserliche Stabführung des Chefs verlassen (müssen). Manche Kleinigkeit fangen sie geschickt auf.
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Der besagte Schwarze Block ist nach der Pause dran. Mit dem Hamburger Hausheiligen Brahms – und mit Musik, die mit den norddeutschen Wurzeln des Komponisten auch zu tun hat. Chorarbeit hat er nämlich schon in seiner Hamburger Zeit geleistet. Seine chorsinfonischen Werke „Nänie“, das „Schicksalslied“ und der „Gesang der Parzen“ zeugen von der Tradition des Chorgesangs im 19. Jahrhundert als Ausdruck bürgerlichen Bildungsbewusstseins. In der Elbphilharmonie gerät die Aufführung zu einem großen, beglückenden „Wir“, das den ganzen Saal erfasst. Stellvertretend für die großartige Leistung der Chorleiterinnen und Chorleiter – die meisten von ihnen singen übrigens mit – sei hier nur Christiane Büttig genannt, die die Hundertschaften zu einem Ensemble geformt hat. Sie singen kultiviert, homogen und textverständlich, ein beeindruckendes Zeugnis für das Niveau des Chorgesangs in der Stadt.
Naganos letzte Hamburger Saison hat noch nicht richtig begonnen. Aber mit diesem Konzert hat der Dirigent gezeigt, welche Spuren er und Dieter Rexroth in Hamburg hinterlassen.