Hamburg. Die Philharmoniker und Chefdirigent Kent Nagano melden sich mit Orffs „Carmina Burana“ auf dem Rathausmarkt aus der Sommerpause zurück.
Kleine Quizfrage zum Warmlaufen für die nun beginnende Klassik-Spielzeit: Was haben Debussys sinnlich-sonniges „Prélude à l‘après-midi d‘un faune“, Pärts spröde knisterndes „Wenn Bach Bienen gezüchtet hätte …“ und Orffs Mittelalter-Kracher „Carmina Burana“ derart zwingend gemeinsam, dass man sie für ein Freiluft-Event vor sicher mehr als 4000 Menschen auf einen Konzertnenner bringen sollte?
Vor Tausenden, die womöglich weder Vorahnungen von Debussys sich sanft verströmender Stimmungsmalerei noch von Pärts kargen Versteckspielen mit Barock-Anleihen und tief hineingewobenen Zitaten des B-A-C-H-Noten-Monogramms haben? Man weiß es nicht. Auch nach längerem, wohlwollendem Nachdenken weiß man es nicht. Gäbe es einen Preis für das eigenartigste Open-Air-Programm – dieser Abend auf dem Rathausmarkt, mit dem sich das Philharmonische Staatsorchester aus seiner Sommerpause zum Dienst zurückmeldete, hätte große Chancen.
Kent Nagano open air: Wenn der Rathausmarkt zur Konzertbühne wird
Im mittlerweile sechsten Spätsommer-Durchgang ist solide gelernt, wie diese „Rathausmarkt Open Air“-Konzerte von und mit Generalmusikdirektor Kent Nagano ablaufen: Rechtzeitiges Ankommen erhöht die Chance auf gute Sitzplätze im bestuhlten Bereich vor der Bühne; wer darauf setzt, dass der Hamburger Abendwind Ende August schon nicht empfindlich kühl um ungeschützte Bandscheiben pfeifen wird, verliert diese Wette garantiert; Intendant Georges Delnon nutzt seine Begrüßungsmoderation zuverlässig auch als Werbeblock für die erste Opern-Neuproduktion der Saison, die jeweils bereits in Sichtweite ist. In diesem Fall für das Orff-Kantaten-Dreierpack „Trionfi“, das mit den „Carmina Burana“ beginnt und am 21. September, inszeniert von Calixto Bieito, an der Dammtorstraße Premiere haben wird.
Was die Zwischenhuster in der Elbphilharmonie sind, das sind hier, im Herzen der Stadt, die alltäglichen Umgebungsgeräusche, das satt dröhnende Gaspedal-Austesten auf benachbarten Straßen und das eine oder andere Glockengeläut aus der Umgebung: Teile einer gut gelaunten Spektakelinszenierung, die letztlich aber die Konzentration auf die Musik und das Miteinander fokussieren. Eine Begegnung, bei der sich Zufallszuhörerinnen mit beidhändig balanciertem Shopping-Ballast ebenso neugierig dem gleichen kostenlosen Mithörerlebnis aussetzen wie Philharmoniker-Stammgäste mit belastbarer Partiturerfahrung in wetterfester Outdoor-Bekleidung. Akustik? Egal. Feinste Feinheiten in der Ausgewogenheit des instrumentalen Stimmengeflechts? Auch nicht so wirklich, dringend wichtig bei der Beschallung der Fläche. Wichtig ist aufm Rathausplatz. Und dieser Zauber funktioniert ja auch, alle Jahre wieder.
Kent Nagano open air: Die Solo-Querflöte, vom Winde verweht
Für den ersten Einsatz dort jedoch musste man schon sehr genau hinhören, um ihn nicht zu verpassen, denn die Solo-Querflöte im Debussy, auf der Leinwand in Großaufnahme präsent, wurde größtenteils (und wenig überraschend) vom Winde verweht. Einem größeren Teil dieser hauchzarten Nachmittags-Vertonung ging es in der einsetzenden Dämmerung kaum besser, da konnte sich Nagano noch so sehr um Feinzeichnung bemühen und gleichzeitig das große Ganze hinter seinem Rücken bedenken. Auch überdacht wäre dieses Stück bereits eine Herausforderung, weil es so delikat ist und so zerbrechlich im Ungefähren schwebt. Hier aber fiel es, bei aller Liebe zu Debussy und der gut gemeinten Absicht, leise aus dem Rahmen des Möglichen.
Tremoli in den Streichern, ein Flirren, als würde man staunend in einen gut belegten Bienenstock hineinhören, und dazu das Wissen, dass sowohl waage- als auch senkrecht mit den Noten B, A, C und H gearbeitet worden war – Pärts Grübelei nach Noten über die Berufswahl von Johann Sebastian Bach hat ihren leicht kauzigen Reiz, weil sie sich so gar nicht um Eitel- oder Äußerlichkeiten kümmert. Diese Musik, die Nagano sehr ordentlich aufgefächert wissen wollte, ist, typisch für Pärts Verinnerlichung, sich selbst sehr genug. War damit aber, anders verkehrt als der Debussy, ebenfalls leicht falsch am Platz.
Auf dem Rathausmarkt: Dieser Orff ist Orff vom Orffsten
Pünktlich zur ersten „O Fortuna“-Anrufung des Schicksals durch den Chor knipste eine höhere Macht die Platzlichter an, der einzige populäre Showteil dieser Show konnte beginnen. Der Reiz dieser Vertonung mittelalterlicher Texte über Minne und Lust, den Lauf der Dinge und die Himmelsmächte ist schnell erzählt: Man kann als Dirigent dieser Musik nur gewinnen, weil Orffs Mischung aus „Game of Thrones“-Bombast, Kirchentonarten und Haltetönen, Mittelhochdeutsch und Mittellatein so unmittelbar wirkt und in ihrer melodischen Schlichtheit immer ein Selbstläufer Richtung Schlussapplaus ist. Wenn man nichts gegen Orffs holzschnittartig rustikalen Stil hat, den man sich zur Not mit Met vom Mittelalter-Markt schöntrinken könnte, war dieser Teil des Konzerts also prächtig gelungen.
Bariton Cody Quattlebaum lieferte seine Solo-Passagen mit angemessener Kraft von der Bühne. In „Olim lacus colueram“ („Einst schwamm ich auf den Seen umher“) jammerte Countertor Jake Arditti in höchsten Tönen als gut durchgebratener Schwan wie am Spieß. Bei ihrem „Stetit puella“ („Stand da ein Mädgelein“) war der schulterfrei singenden Sopranistin Sandra Hamaoui sehr zu wünschen gewesen, dass jemand auf der Bühne einen kleinen Heizstrahler für sie untergebracht hatte. Doch am Ende dieses Kreislaufs, beim finalen „O Fortuna“, ist dieser Orff nun mal Orff vom Orffsten. Riesiger Applaus, die Außentemperaturen kein Problem. Der Rest der Spielzeit kann kommen.
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Akademie-Konzerte der Philharmoniker zum Saisonstart: vom 6. bis 10.9. in der Elbphilharmonie, Gr. bzw. Kl. Saal. Informationen: www.philharmonisches-staatsorchester.de, Opern-Saisonstart: Orff „Trionfi“, 21.9., 18 Uhr, Staatsoper, www.staatsoper-hamburg.de