Hamburg. Zweiter Versuch für Kent Nagano und das Philharmonische Staatsorchester – die ihr Konzert einem verstorbenen Weggefährten widmen.
Es kommt nicht allzu oft vor, dass ein neues Stück erst im zweiten Anlauf uraufgeführt wird. Das Philharmonische Staatsorchester war am Sonntagvormittag in der Elbphilharmonie mit „Im Dunkel vor der Dämmerung“ von Vladimir Tarnopolski nur bis etwa Minute 30 gekommen, dann roch es brenzlig im Foyer der 13. Etage. Feuerwehreinsatz, Unterbrechung des Konzerts, Evakuierung des Großen Saals. Ungefähr eine Stunde mussten die Menschen nach dem Feueralarm in der kühlen Frühlingsluft vor dem Gebäude warten, bis das Konzert weiterging. Dann aber gleich mit der zweiten Programmhälfte.
Elbphilharmonie: Im zweiten Anlauf glückt die Uraufführung von „Im Dunkel vor der Dämmerung“
Aber die Philharmonischen Konzerte werden ja zweimal gespielt. Neues Spiel, neues Publikum, neues Glück also am Montagabend. „Im Dunkel vor der Dämmerung“ bietet schon optisch einiges: Chefdirigent Kent Nagano hat die Solistin und die beiden Solisten, Boglárka Pecze im langen roten Kleid mit fast frauhoher Bassklarinette, Edicson Ruiz im rosenholzfarbenen Seidenjackett am Kontrabass und den Bratschisten Nils Mönkemeyer in schlichtem Schwarz, ganz oben hinter das Orchester und zusätzlich auf Podesten platziert. Da sind sie nicht nur gut zu sehen, sondern auch zu hören.
Die drei tiefen Instrumente haben es schwer, sich gegen ein Orchestertutti durchzusetzen. Deshalb hat sich Tarnopolski entschieden, sie elektrisch zu verstärken. So kann er die ganze Bandbreite des Orchesters ausnutzen. Es geht aber nicht nur um die dynamische Balance. Die Verstärkung bereichert auch die ohnehin erstaunliche Palette von Tarnopolskis Klangfarben, denn die Timbres der Soloinstrumente mischen sich anders in den Orchesterklang.
Elbphilharmonie: Das Konzert ist Naganos im April gestorbenen Weggefährten Dieter Rexroth gewidmet
„Im Dunkel vor der Dämmerung“ steht im besten Sinne für eine zeitgenössische Musik, die Herz und Sinne anspricht, ohne ihren Anspruch zu verraten. Vom ersten zarten Flattern der Soloinstrumente an baut sich das Stück zu einem vollen Tuttiklang auf, in dem es überall stürmt, tost, sich bewegt. In innigen Pianopassagen zeigen die drei Solisten ihre ganze Nuancierungskunst.
Dieses Mal kommen sie alle unbehelligt durch, bis zu dem Moment, in dem das hohe Sirren der Bratsche, die leise und scharf klatschenden Staccati des Kontrabasses und die kosmischen Töne der Bassklarinette verlöschen. Ergriffene Stille eint den Saal, dann bricht Jubel aus. Der Komponist herzt Pecze und die beiden Herren, umarmt Nagano, dankt der Klangregie. Es liegt eine ungewöhnliche Rührung in der Luft. Die Beteiligten haben das Konzert Dieter Rexroth gewidmet, Kent Naganos langjährigem dramaturgischen Weggefährten, der am 9. April gestorben war. Tarnopolskis neues Stück ist unerwartet zu einem Requiem geworden.
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Nach der Pause dirigiert Nagano Beethovens „Eroica“, ungefähr zu übersetzen mit „Heldensinfonie“. Kern-Kernrepertoire für ein Sinfonieorchester. Ein agiler, ausgesprochen unpathetischer Held ist das, dem sie da huldigen. Nagano formt die Binnenstrukturen plastisch heraus, der Klang ist zart und durchhörbar. Das Orchester kennt seinen Chef gut genug, um sich bei Bedarf an den Wegbiegungen diskret wiederzufinden. Und in der Bassgruppe spielt dieses Mal ein Herr im rosenholzfarbenen Seidenjackett mit. Edicson Ruiz ist nämlich auch Orchestermusiker: bei den Berliner Philharmonikern.