Hamburg. Jackie Thomaes neuer Roman handelt von einer Frage, die eine Frechheit ist – und ist eine gleichermaßen sensible und laute Annäherung.

Wie viel Zeit ihr denn noch bleibe, fragt eine Heldin in diesem Roman ihre Ärztin. Warum hat ihr Verlangen so spät eingesetzt? 25 Jahre hat sie gehabt, Mutter zu werden. Die Ärztin hat ihr das ungerührt gesagt. Da kann man sich schon schuldig fühlen. Es ist ein Selbstvorwurf, den sich so nur Frauen machen können. Müssen. Wenn sie zu spät dran sind mit dem Kinderwunsch.

Es gibt in manchen Kreisen schon seit längerer Zeit eine eher unerquickliche Diskussion darüber, wer überhaupt über was schreiben oder urteilen darf. Darf ein weißer Mensch ein Buch über die Lebenswelten von Schwarzen, also PoC („People of Color“), schreiben oder einen Film über sie drehen? Kann er aus seiner Perspektive den Betrachtungsgegenstand „richtig“ behandeln, obwohl er ein Außenstehender ist? Sollte ein Mann über Frauenthemen schreiben dürfen?

Im Falle von Jackie Thomaes neuem, speziellem Roman „Glück“ ist die grundlegende Sache schnell geklärt: Hier schreibt eine Frau smart, schnell, tragisch und komisch über Frauen. Hauptsächlich über die Frauen, die mit der Biologie hadern: Männer können ewig Kinder zeugen, Frauen steuern auf die Wechseljahre zu. Irgendwann könnten sie den Zeitpunkt verpasst haben, ein Baby zu bekommen. Es droht eine anstrengende, am Ende manchmal kummervolle Zeit. Weil an dieser Stelle ein Mann diesen Roman bespricht, sei darauf verwiesen: Dies muss nicht verkehrt sein. Im Gegenteil ist zum Beispiel das männliche Urteil über die starke gesellschaftliche Tendenz, Frauen in Mütter (gut und normal) und kinderlose Frauen (schlecht und unnormal) zu klassifizieren, sicher nicht weniger wert als das weibliche.

Neues Buch „Glück“ von Jackie Thomae: Können Frauen ohne Kinder glücklich sein?

Also: Die Frage, ob Frauen nur als Mütter glückliche Menschen sein können, ist eine Frechheit. Wenn man sie denn unterschwellig oder plump völlig offen ohnehin nur mit „Ja“ beantwortet. Weder Männer noch Frauen sollten sich eine solche Sichtweise anmaßen. Die Figuren in Jackie Thomaes Roman sehen sich unter anderem als Teil dieses jämmerlichen Gesamtbilds, in dem sie automatisch als Unglückliche, Unvollendete in die Frust-Ecke gestellt werden.

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Aber sie hadern nicht nur mit Erwartungshaltungen, sie kämpfen vor allem mit ihrem plötzlich so starken Kinderwunsch. Da ist die erfolgreiche Berliner Radiomoderatorin Marie-Claire Sturm, die genau wie die Berliner Bildungssenatorin Anahita Martini mit 40 plötzlich merkt, dass es nun knapp wird, was die Fortpflanzung angeht. Thomae inszeniert einmal ein Aufeinandertreffen der beiden Frauen im Aufnahmestudio in Marie-Claires Radiosendung, später gibt es noch eine flüchtige Begegnung bei der gemeinsamen Frauenärztin. Darüber hinaus blendet die Autorin immer wieder von der Lebensrealität der einen, von ihrer Vergangenheit und ihrer Gegenwart, zu derjenigen der anderen über. Mit Marie-Claires Schwester Rebekka und Freundin Maren gibt es zwei weitere Figuren, die ihren Auftritt in einem eigenen Kapitel haben.

Neuer Roman „Glück“: Rollenprosa zweier selbstbewusster Frauen

Im Mittelpunkt aber stehen Marie-Claire, kurz MC, und durchaus etwas weniger Anahita, deren Fortpflanzungsstress die geborene Erzählerin Thomae, Jahrgang 1972, in „Glück“ auf mitfühlende, unbarmherzige, auf nicht selten amüsante Weise schildert; in der Rollenprosa zweier selbstbewusster, sich selbst und den anderen gegenüber gnadenloser Frauen. Thomaes Prosa ist wahnsinnig gut zu lesen; „Glück“ ist rasant geschrieben, szenisch, klug. Der Roman legt es erfolgreich darauf an, auf beinah jeder Seite die Nachvollziehbarkeit seiner Heldinnen zu bewerkstelligen.

Family is everything
Ist Kinderglück das größte Glück? Diese Frage verhandelt Jackie Thomaes neuer Roman. © Getty Images/iStockphoto | AleksandarNakic

Vor allem wird die Traurigkeit, die entweder aus ungewollter Kinderlosigkeit rührt oder aus dem Sozialdruck, der einer Frau unter Umständen Wünsche einreden will, die sie gar nicht hat, so glänzend abgefedert: „Glück“ liest sich eigentlich nie wie eine Literatur gewordene Problemstudie. Es ist kein Thesenroman, das wäre schrecklich. Nein, es geht um Schicksale und Biografien, die in diesem Fall auf den Punkt zulaufen, an dem sich MC, Anahita (beide übrigens Frauen mit Migrationshintergrund), aber auch Maren und Rebekka fragen müssen, ob sie ein falsches Leben gelebt haben.

Jackie Thomaes Roman „Glück“: Das Tonnengewicht der Vergangenheit

Ganz einfach nur deswegen, weil sich bei ihnen ein körperliches und hormonelles Fenster schließt. Was für ein unfairer Zug der Natur! Männer betrifft das nicht, und die physischen Vorgänge bei Frauen werden sie ohnehin nie nachempfinden können. Der Roman erzählt die Backstorys der Frauen und buchstabiert ihre Leben dabei ziemlich aus. „Glück“ ist ein Roman der Aussagesätze, nicht des poetischen Ungefährs. Zurückhaltend ist Jackie Thomae nicht, was das Tonnengewicht der Vergangenheit angeht: MC etwa hatte zwei Abtreibungen. Und viele Männer, die immer auch etwas darstellen wollten und sollten. Es ist MC selbst, die bitter auf ihre Liebes-Historie zurückblickt. Man möchte sie trösten, „Fehler“ machte sie ja nur, weil es unweigerlich tickt: „Ich sehe eine Sanduhr, durch die die Zeit rieselt, die mir noch bleibt.“ Würde irgendein Mann mit ihr tauschen wollen?

Buchcover Glück
Das Buchcover von Jackie Thomaes Roman „Glück“, Claassen-Verlag, 432 S., 24 Euro. © Claassen Verlag | CLAASSEN Verlag

Anahita, die zunächst Lehrerin war, die Härte des Klassenzimmers aber nicht aushielt und dann in die Politik ging, weiß gar nicht, ob sie wirklich Kinder will, oder ob ihr lediglich die Gesellschaft, die so konservativ ist in ihren Wertvorstellungen, diesen Wunsch unterschieben möchte. Mit Maren, der zunächst im Filmbusiness Tätigen, die dann in die Lifecoach-Szene wechselt und dort, na klar, kinderlose Frauen zu heilen sucht, hat auch eine Vertreterin der „Ich will keine Kinder“-Fraktion ihren Auftritt. Aber auch sie war zumindest zeitweise von der Notwendigkeit getrieben, vor sich selbst und der Außenwelt diese Entscheidung zu rechtfertigen.

Neuer Roman „Glück“: Die Sache mit dem weiblichen Kontrollblick

„Glück“ ist am lustigsten genau dann, wenn der weibliche Kontrollblick thematisiert wird. MCs Mutter Veronika ist nicht nur diejenige, die ihre Tochter am meisten malträtiert mit dem Kinder-Thema, sie ist auch selbst eine Frauenfigur mit Prägungen und einem bestimmten Weltbild, Frau in einer Reihe von Frauen, die alle jeweilige Repräsentantinnen ihrer Zeit sind. Marie-Claires Heimatbesuch in der Provinz ist eines der Glanzstücke des Romans, der auf bemerkenswerte Art sensibel und vehement, leise und laut ist. Im Gefühlschaos der biografischen Final-Situation und des „auf den letzten Drücker“ redet der Roman zwar auch der bewussten Kinderlosigkeit unbedingt das Wort. Er handelt aber mehr vom unerfüllten Kinderwunsch.

Was das angeht, ist sein Ende so gelungen wie das Ganze: eine märchenhafte Coda, in der die Autorin noch nicht mal befürchten muss, in eine Kitschfalle getappt zu sein.

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Ich will diese Frau, ach nein, doch lieber die andere

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