Hamburg. Der Hamburger Arno Surminski wird 90. Ein neues Werk erscheint pünktlich zum Geburtstag. Es geht ums Suchen, was für ein Stoff.

Sie interessiert sich für Bäume, die Natur, die Weite des Landes. In der Prärie speziell von Manitoba wächst kaum etwas, Steppe. Linda hat im Krieg Vergewaltigungen erlebt, zu Menschen hält sie Distanz. Etwa anderthalb Jahrzehnte sind Hitlers Verbrechen nun her und das, was sie nach sich zogen an Leid und Unrecht. Er wiederum hat so viele Bäume kennengelernt, dass es für mehr reicht als 100 Leben. Elf Jahre musste Gerd Wolters in Sibirien und Tschuwaschien in den Wäldern schuften.

Danach durfte er nach Hause zurückkehren, ins Emsland. Dort fand er Mitte der 1950er-Jahre aber niemanden mehr vor. Seine Frau war bei einem späten Fliegerangriff der Alliierten kurz vor Kriegsende ums Leben gekommen. Sein Sohn ist verschwunden. Deswegen ist Gerd, die Hauptfigur in dem neuen Roman „Von den Wäldern“, nun in Kanada: Er hat in einer Zeit, in der man als Mensch anders als heute einfach (fast) spurlos verschwinden konnte, dann doch immerhin feststellen können, dass einst ein Siegfried Wolters die große Schiffreise nach Übersee antrat.

Neuer Roman „Von den Wäldern“: Hamburger Arno Surminski erzählt vom Krieg und dem Danach

Und nun reist er also durch Kanada, von Holzfällerlager zu Holzfällerlager und in die Papierfabriken. Die Frau, die bei ihm ist, heißt Linda. Sie sucht als seelische Kriegsversehrte ebenso Halt in einer Gesellschaft, die auf einem Bruch gebaut ist. Der Krieg hat Land und Menschen zerstört. Der Wiederaufbau ist eine Lebensaufgabe. Der Hamburger Erzähler Arno Surminski kam mit elf Jahren nach Schleswig-Holstein, seine Eltern wurden in die Sowjetunion deportiert. Seit seinem 1974 erschienenen literarischem Debüt „Jokehnen oder Wie lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland?“ hat der am 20. August im ostpreußischen Jäglack geborene Suminski vom Krieg und vom Schicksal der Kriegsvertriebenen erzählt und allgemein von Abschied und Neuanfang.

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Wenn nun pünktlich zum 90. Geburtstag Surminskis Buch „Von den Wäldern“ erscheint, ist er auf einem späten Höhepunkt seines Schaffens angekommen. Der Barmbeker, der vor vielen Jahren einst selbst als Holzfäller in Kanada arbeitete, erzählt die Geschichte einer biografischen Entwurzelung – im bemerkenswert kühl gehaltenem Ton der Unabwendbarkeit eines Schicksals, das vom Krieg gezeichnet ist.

Arno Surminski und sein Roman „Von den Wäldern“: Geschichte eines gestohlenen Lebens

Das ist bedauerlicherweise die Aktualität dieses Texts, der also auch etwas über das Heute verrät: Im russischen Lager, wozu jeder deutsche Gefangene zu 25 Jahren verurteilt wurde (die zeitliche Einheit der Kriegsgewinner, die sie für den Wiederaufbau ihres Landes pauschal berechneten), lernt Gerd den Mitgefangenen Sergej kennen. Warum er im Lager ist? „Weil ich Ukrainer bin. Die Russen mögen uns nicht. Sie sagen, wir hätten uns in beiden großen Kriegen zu sehr mit den Deutschen eingelassen“, erklärt Sergej. Mehr als 70 Jahre später diente auch diese Begründung als Rechtfertigung eines russischen Angriffskriegs.

Autor Arno Surminski
Der Autor Arno Surminski in seiner Wohnung in Barmbek. © DPA Images | Marcus Brandt

Der Arbeitshaft kann Surminskis Hauptfigur nicht entrinnen. Sie beklagt die Tragik ihres gestohlenen Lebens nicht. Weder im Lager noch nach seiner Rückkehr nach Deutschland, wo sie auf das blanke Nichts trifft. Es gab eine Logik des Geschehens. Krieg ist Krieg, und gerade als Verlierer musste man einen Preis entrichten. Gerd Wolters ist eine durch und durch deutsche Figur. Das gilt auch für die aus der deutschsprachigen Provinz in der Tschechoslowakei stammende Linda, die Surminski als Sehnsuchtsfigur seines Gerd in den Plot installiert. Den Frauen waren viele Spätheimkehrer entwöhnt, auch das schildert der Schriftsteller auf die literarisch überzeugende Weise, in der dieser ganze Roman verfasst ist: als knapp in klarer Sprache dargebrachte Beschreibung der Zustände.

Neues Buch „Von den Wäldern“: „Du suchst Bäume, ich suche den Jungen“

So ist es Gerd gar nicht unrecht, dass Linda körperliche Nähe nur sehr bedingt zulässt. Dennoch ist die Beziehung der beiden von Entsagung umweht. Auch deswegen, weil Gerd ein noch viel größeres Verlangen hat als das nach affektiver Bindung an eine Frau. Sein Leben, das Surminski im Fortgang des wenig mehr als 200 Seiten langen Textes immer geraffter bis zur Jahrtausendwende erzählt, wird über Jahrzehnte von der Suche nach dem Kind bestimmt. Linda ahnt früh, wie schwierig bis unmöglich das Unterfangen ist, diesen verlorenen Sohn zu finden. „Du suchst Bäume, ich suche den Jungen, erklärte er. Jeder Mensch muss etwas suchen. Ob er das Gesuchte findet, ist eine andere Sache“, heißt es in „Von den Wäldern“ einmal.

Buchcover Von den Wäldern
„Von den Wäldern“ erscheint im Hamburger Verlag Ellert & Richter, 231 S., 20 Euro. © Ellert & Richter Verlag | Ellert & Richter Verlag

Dieser Roman einer Heimkehr ist auch wegen jenes zeitlosen Themas eine lohnende Lektüre. Romantisch ist an dieser Suche, auch wenn sie sich teilweise in den Wäldern in einem ganz anderen Land abspielt, aber gar nichts. Der existenzielle Verlust durchdringt diesen Text mit Vehemenz. Seine Geburtstage feiert Gerd Wolters allein für sich, obwohl Linda irgendwann fest in seinem Leben ist, immer da und doch nie ganz. Bevor er noch einmal in die dann ehemalige Sowjetunion fährt, zum Ort seiner Gefangenschaft, fährt Hitlers Ex-Soldat Gerd an einem dieser Geburtstage zu seinem Geburtshaus, das es nicht mehr gibt. Er setzt sich eine halbe Stunde auf einen Stein und starrt in einen Teich. Niemand hier kennt ihn, er ist nur ein alter Mann auf einem Stein. Die Suche nach dem Sohn war immer auch eine Flucht vor der Leere.

Arno Surminskis Roman „Von den Wäldern“ erzählt beeindruckend von den Auswirkungen, die Kriege haben. Familien wurden und werden für immer auseinandergerissen. Arno Surminski erzählt jetzt so lange schon von Flucht und Suche, vielleicht ist dieses konzise Werk der Roman seines Lebens.

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Darf man mit diesem Mann eigentlich Mitleid haben?

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