Hamburg. Am Montagabend wird im Frankfurter Römer die renommierte Literatur-Auszeichnung verliehen. Wir stellen die sechs Finalisten vor.
Der Deutsche Buchpreis ist als Erstes ein Marketinginstrument. Mit seiner Hilfe wird das Gespräch über Literatur in Gang gebracht, was sich im besten Fall in massig verkauften Büchern niederschlägt. Zweitens ist der Buchpreis, der am Montagabend zum 15. Mal vergeben wird, auch eigens dafür geschaffen worden, Literaturexperten, Kritiker, Berichterstatter und alle anderen Leser zu verärgern.
Dabei sind die Vorauswahl der besten 20 und die Finalisten der besten sechs doch am Ende nie so schlecht, wie man sie zu Anfang, von jeglicher Lektüre unbeleckt, noch finden wollte. (Nur weil persönliche Favoriten oder wenigstens bekannte Autorinnen und Autoren „fehlen“). Gilt das auch für die 2019er-Auslese? Durchaus. Wir stellen die Finalisten, von denen einer den Titel und 25.000 Euro Preisgeld davontragen wird, im Folgenden vor.
Leben im Dazwischen
Der große Favorit. Ein Buch über unsere Gegenwart, in der, wenn nicht alles täuscht, Menschen, die nicht in ihrem Geburtsland leben, die interessantesten Geschichten zu erzählen haben. Aber ist Saša Stanišićs „Herkunft“ ein Roman, um solche soll es laut Satzung beim Buchpreis gehen? Im strengen Sinne nicht; „Herkunft“ ist ein Memoir, das vom Verlieren und Erobern einer Heimat erzählt. Dabei wechseln sich Betrachtungen mit Erinnerungen ab, daraus entsteht dank Stanišićs ironischem und zwischen Ernst und Komik wechselndem Erzählstil ein in der deutschen Literatur seltener Text.
Heute lebt Stanišić in Hamburg, seine erste Heimat, den Vielvölkerstaat Jugoslawien gibt es nicht mehr. Was sich daraus ergibt, ist eine Identitätssuche, die von Stanišić in grandiose Literatur umgemünzt wird – fast ganz ohne „Zugehörigkeitskitsch“, wie der 41-Jährige bestimmte Zuschreibungen nennt. „Herkunft“ ist ein schönes, nostalgisches, wahres, kluges Buch, das viel über unser Land erzählt, über Bosnien und alle, die im Dazwischen leben.
Rettende Bienen
Mit 67 Jahren ist der Rheinland-Pfälzer Norbert Scheuer deutlich der älteste Vertreter auf der Shortlist und auch derjenige mit dem umfassendsten Werk. „Winterbienen“ ist Scheuers achter Roman. Erzählt ist er im typisch unaufdringlichen Scheuer-Duktus, dem man die Kunstfertigkeit zunächst nicht anmerkt. Und das, wovon er erzählt, ist eine Geschichte, die einfach erzählt werden musste, wo sie doch wahr ist, wie Scheuer im Nachwort berichtet. Der wehruntüchtige Epileptiker Egidius Arimond bringt in Bienenstöcken versteckte Juden über die belgische Grenze.
Es ist das Jahr 1944, und das Deutsche Reich schickt sich an unterzugehen. Wie zuletzt Arno Geiger in „Unter der Drachenwand“ taucht Scheuer in das Kriegsgeschehen jenseits der Front und der großen Städte ein. In Tagebucheinträgen lässt er seinen in mancherlei Hinsicht dubiosen Helden, der Geld für seine Medikamente braucht und ein Frauenheld ist, von Zerstörung, Tod und Gräueln berichten, von der Zwietracht, dem Argwohn und dem Hass der Bewohner eines untergehenden Landes. Endzeit in der Eifel also. Die Bienen sind das Leben, aber auch der Tod fliegt durch die Lande. Scheuers Sohn hat die Zeichnungen der todbringenden Fliegerbomber beigesteuert. Sehr solider Shortlist-Titel.
Eine Österreich-Parabel
Eine von drei Debütantinnen und Debütanten im finalen Teilnehmerfeld, hat die 1990 in Wien geborene Raphaela Edelbauer einen ebenfalls mit dem Thema Weltkrieg II befassten Roman vorgelegt. Und sich gleichzeitig für den Kafka-Gedächtnispreis beworben. „Das flüssige Land“ ist in einem grotesken Setting angesiedelt, dem nicht auf der Landkarte zu findenden Örtchen Groß-Eiland, über dem „die Gräfin“ in ihrem Schloss (genau, Kafka!) thront. Die Physikerin Ruth, die Ich-Erzählerin dieses eigentümlichen Romans, verschlägt es dorthin nach dem Unfalltod ihrer Eltern.
Die stammen aus Groß-Einland, wo man die Zeit vergisst und das im mehrfachen Sinne. Ein Loch scheint den Ort zu verschlucken, langsam und Stück für Stück. Früher war hier eine Außenstelle des KZs Mauthausen, aber niemand will sich daran erinnern. Zur Strafe waten die Bewohner immerzu über morastigen Boden. Die Romanhandlung ist eine einzige große Metapher, eine Parabel auf eine nicht bewältigte Vergangenheit. Ein interessant umgesetzter Stoff, der allerdings um einiges zu lang geraten ist.
Drei Männer und ein Kind
„Meine Kindheit war geprägt von drei Männern, die sich rund um die Uhr um mich kümmerten“, heißt es einmal im Debütroman der 1992 in Gotha geborenen Miku Sophie Kühmel. Klingt ganz so, als habe die Anfangszwanzigerin Pega eine behütete Kindheit gehabt, aber halt unter den Vorzeichen des Millenniumlebens. Ihr Vater Tonio war sehr jung bei ihrer Geburt, zog sie ohne Mutter groß, aber mit tatkräftiger Unterstützung von Max und Reik, einem schwulen Paar.
An einem gemeinsam verbrachten Wochenende in der Uckermark entladen sich, wie das manchmal so ist, die Spannungen innerhalb dieses von der Autorin zu effektvoll konstruierten Quartetts. Jeder Protagonist bekommt seine Monologstrecke, auf der er bekenntnishaft Zeugnis ablegen darf. Selbst die sexuelle Nichtfestlegung bekommt hier etwas Angestrengtes, Gleiches gilt für die Sexualisierung des gesprochenen Wortes. Der Unordnung der Verhältnisse – manches wirkt hier arg fad – wird ein bemerkenswert biederer Romanaufbau entgegengestellt. Kurz: Debütanten genießen eigentlich Welpenschutz, aber sie gehören seltener, als manche denken, auf die Shortlist.
Ungleiche Brüder
Unbedingt erfrischend: wenn in der deutschsprachigen Literatur jemand amerikanische Erzähltraditionen benutzt. Wobei Literaturästheten sich genau an jenem Wort „benutzen“ bereits abarbeiten dürften … Jackie Thomae, Jahrgang 1972, Tochter einer DDR-Bürgerin und eines Afrikaners, entfaltet in ihrem zweiten Roman „Brüder“ zupackend und rasant ein Gesellschaftspanorama der vergangenen drei Jahrzehnte. Zwei einander unbekannte, 1970 geborene Halbbrüder, deren afrikanischer Vater als Student in die DDR kam, stehen im Mittelpunkt der klar zweigeteilten Handlung.
Der erste Teil ist dem Womanizer Mick gewidmet, für den die gesamten Neunzigerjahre vorwiegend ein unaufhörliches Nacheinander Berliner Nächte sind. Ein Luftikus, ein Clubbetreiber, der keine Steuererklärung macht – und der Rassismus nur von ferne her kennt. Im Leben von Gabriel, der im neuen Jahrtausend als Architekt in London lebt, spielt das Thema erst spät eine Rolle. Er ist ein strebsamer, ambitionierter Mann, der seine Herkunft abgeschüttelt hat und von Erfolg zu Erfolg hetzt, bis sein Leben auf denkbar andere Weise implodiert als das seines Bruders. Thomae erzählt sprachlich gewandt, fesselnd und direkt, ohne je innezuhalten. Eine unbedingte Stärke dieses Romans, der lediglich implizit davon handelt, wie es ist, vaterlos und als Mischung verschiedener Hautfarben aufzuwachsen.
Der Fußballer-Roman
Die kleine geschmäcklerische Eskapade, die sich die aktuelle Buchpreisjury erlaubt: ein Fußballroman, Tatsache! Oder recht eigentlich ein Roman über einen Mann in der Krise, der das hinterfragt, was sein Leben ist. Als hoch bezahlter Fußballprofi in der Premier League, als gelangweilter Familienvater. Er sehnt sich zurück nach dem Früher, den Jungs, der Jugend, nach Mirna. Was Letzteres angeht, verschafft er sich Abhilfe und beginnt eine Affäre.
Und diese und alles andere auch kommentiert der so selbstbewusst und natürlich selbstgerecht um sich kreisende, schlaue und gleichzeitig bornierte Alles-Checker Ivo Trifunović in „Nicht wie ihr“, einem Roman, der auf seine Weise absolut grandios ist. Ivo („Genau das heißt es, erwachsen zu werden: nicht jedem Hurensohn zu sagen, dass er einer ist“) ist 27, so alt wie sein Erfinder Tonio Schachinger. Der ist der beste österreichische Debütant des Jahres, mindestens, obwohl er neben manch originellem Gedanken so viele bildliche Vergleiche findet („Ivo strahlt wie ein volles Stadion bei Flutlicht“), dass man ihn mitunter bremsen möchte. Der Clou an diesem Sportlerporträt, das vom Leiden an der Daueröffentlichkeit berichtet, sind im Übrigen die Klarnamen, alles andere wäre auch ein verpasste Chance gewesen. Und so erfährt man, was ein österreichischer Fußballprofi über Thomas Müllers „Bauerndummheit“ denkt, über grundsätzlich unfesche Deutsche und den HSV („Aber bis er nach Hamburg gekommen ist, wusste er nicht, dass ganze Städte Komplexe haben können“). Es ist alles ganz und gar herrlich.