Hamburg. „Eva“, der zweite Roman von Verena Keßler, verknüpft ein hochemotionales Thema mit einer gesellschaftlichen Debatte.

Was, wenn Sina nicht schwanger werden möchte? Wenn Mona nie Kinder bekommen hätte? Wäre die Welt dadurch ein besserer Ort? „Eva“ (gerade bei Hanser Berlin erschienen, 200 S. 24 Euro) ist nach „Die Gespenster von Demmin“ der zweite Roman der Hamburger AutorinVerena Keßler, Jahrgang 1988. Darin geht es auf der oberen Erzählebene um die zwei früher mal eng miteinander verbundenen Schwestern, eben Sina und Mona, die sich im Laufe ihres Erwachsenenwerdens auseinandergelebt haben.

Die eine Journalistin, bei der er „es mit dem Kinderkriegen einfach nicht klappen will“, die andere dreifache Mutter. Über das Kinderkriegen hat sie sich kaum Gedanken gemacht, es ist einfach so passiert, mit Roman, den sie erst seit ein paar Wochen kannte. Beides sieht aus der Ferne betrachtet in Ordnung aus, aber im Subtext brodelt es.

Denn Mona hadert mit ihrem ach so heilen Familienleben, für das sie ihren Job geopfert hat, und dass Sina trotz aller Bemühungen und Strapazen nicht schwanger wird und, wenn sie ehrlich zu sich selbst ist, auch nicht will, stößt auf größtes Unverständnis in ihrem Freundinnenkreis und noch viel mehr bei ihrem Partner Milo, denn für ihn, der aus einer harmonischen Großfamilie stammt, sind Kinder „der Sinn des Lebens“.

Kinder kriegen: Was spricht dafür und was dagegen?

Auch Sina flirtet mit dem Muttersein, beim Besuch einer befreundeten Familie denkt sie, dass alles so leicht aussieht. „Es wirkte, als sei Kinderhaben etwas, das man nebenbei machen konnte, das sich ganz einfach ins Leben einfügen ließ, ohne alles durcheinanderzubringen.“ Frauen würden unter den widrigsten Bedingungen schwanger, ob sie es wollen oder nicht, sagt die Gynäkologin bei einer ihrer unzähligen Untersuchungen, – „und für andere passiert es nie“.

Dass Frauen auch heute eben nicht frei von gesellschaftlichen und sozialen Zwängen über ihr Lebensmodell entscheiden können, das Muttersein im Nachhinein bereuen, ist nicht neu. Doch Keßler bildet darüber hinaus eine gesellschaftliche Debatte ab: Was spricht heute dafür und was dagegen, Kinder zu bekommen? Ist es nicht egoistisch oder gar fahrlässig, in diese überlastete, dem Kollaps zusteuerende Welt, noch mehr Erdenbürger zu setzen? Kann man durch den Verzicht auf Kinder das Klima retten?

Getriggert wird Sinas Situation durch ein Interview, das sie mit der Lehrerin Eva Lohaus, die dritte und titelgebende Frauenfigur des Romans, führt: Diese hat mit ihrer radikalen Forderung, zugunsten von Klima und Umwelt ganz aufs Kinderkriegen zu verzichten, für Aufmerksamkeit gesorgt.

Über die Lehrerin Eva bricht ein riesiger Shitstorm los

Die Autorin lässt sie souverän über Extremwetterereignisse, Treibhausgase, Massensterben von Arten, verschmutzte und überfischte Gewässer sowie ausgetrocknete Böden dozieren. Ihr Fazit: Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird die stetig wachsende Bevölkerung die Ressourcen von zweieinhalb Erden benötigen.

„Es wird in Ihrer und meiner Lebenszeit sowohl zu Nahrungsmittel- als auch zu Wasserknappheit kommen, was bewaffnete Konflikte mehr als wahrscheinlich macht. Wenn ich mit einem Mann zusammen wäre, der sich wünscht, unter diesen Voraussetzungen einen weiteren Menschen in die Welt zu setzen, würde ich ihn fragen, ob er noch ganz bei Trost ist“, antwortet sie einer Zuschauerin in einer Talkshow.

Klar, dass sich nicht nur Fans um sie sammeln. Es bricht ein riesiger Shitstorm los (schließlich geht es hier um die privateste aller Entscheidungen im Leben), der auch für die Schwestern nicht folgenlos bleibt. Und es taucht noch eine vierte Frauenfigur auf, am Schluss des Buches: Eine neue Nachbarin von Mona bleibt namenlos, aber an ihr laufen die losen Enden der anderen drei Geschichten schließlich zusammen.

Verena Keßler: Lebensweise Sätze, originelle Dialoge und klare Sprache

Anhand der vier Frauen beschreibt Keßler jeweils unterschiedliche Erwartungen und Entwürfe vom Leben, ob selbst gewählt oder vom Schicksal herbeigeführt, und macht die Tragweite der Entscheidung, für oder gegen Kinder, deutlich.

Eine dreifache Mutter, die unter der Last der Verantwortung leidet, ihr Kinderglück buchstäblich nicht fassen kann. Eine von der Liebe enttäuschte Lehrerin, die Kinder mag, aber es unverantwortlich findet, selbst welche zu bekommen, eine Journalistin, die selbstbestimmt leben will, es sich aber lange nicht eingestehen will, und eine Frau, die ihr größtes Glück verloren hat. Dabei führt die Autorin nicht alles aus, lässt bewusst Leerstellen, erzeugt dadurch erzählerische Spannung.

Ein bisschen erinnert das perspektivische Narrativ der vier Frauen an Daniela Kriens Erfolgsroman „Die Liebe im Ernstfall“. Auch darin konnte sich jede Leserin ihre Identifikationsfigur wählen. Und wenn Eva Lohaus, um den Hassbotschaften zu entkommen, in eine heruntergekommene Dorfkate zieht und sich dort mit einem schwer erziehbaren, allein gelassenen Teenie-Mädchen anfreundet, ist man sehr schnell bei Juli Zehs Aussteigerroman „Über Menschen“.

Aber geschenkt. Denn „Eva“ hat außerdem so lebensweise Sätze, originelle Dialoge und eine stets klare Sprache zu bieten, verknüpft so geschickt ein hochemotionales Thema mit knallharten Fakten und lässt das Private gegen die große global-gesellschaftliche Verantwortlichkeit antreten, dass man sich dieser Diskussion nicht entziehen kann.