Hamburg. Das Dockville ist Reizüberflutung, Komfortzone, wunderbar divers und selbstbewusst. Warum das Event ein echter Glücksfall für Hamburg ist.
Wie in einem Kaleidoskop steht die Hamburger Musikerin Fyne auf der Bühne. Das Licht bricht sich in den bunten Glasscheiben über ihrem Kopf. „Eigentlich sind wir vielleicht perfekt zusammen“, singt sie zu Elektro-Beats und E-Gitarre. Flirren und Flüchtigkeit, Liebe und Tiefe. Alles ist möglich. Alles ist im Fluss.
In seiner komplexen Intensität ist der Auftritt der jungen Künstlerin exemplarisch für das Dockville-Festival. Drei Tage und Nächte verwandelt sich das Areal am Reiherstieg in Wilhelmsburg in ein popkulturelles Labor, das Gegenwart und Zukunft positiv auslotet. Mit Kunst und Konzerten. Mit 140 Acts, Bands und DJs auf einem Dutzend Bühnen. Mit internationalen Shootingstars wie US-Rapperin Ashnikko. Mit bekannteren Namen wie Jeremias, Disarstar und Zoe Wees. Vor allem aber mit einem auf absolute Vielfalt setzenden Programm, das ein wunderbar diverses Publikum anzieht.
MS Dockville 2024: Die schönsten Fotos vom Festival
MS Dockville: Jungs im gestreiften Sommerkleid, Ladys in weiten Jeans
Die Jungs im gestreiften Sommerkleid oder im knappen Tennisdress feiern da neben tätowierten Brudis und älteren Typen in Molotow- oder Hafenklang-Shirt. Sie und er flanieren im Partnerlook mit transparenten Oberteilen. Die Ladys tragen weite Jeans zum BH, schimmerndes Fransenkleid und Westernstiefel wie direkt vom Taylor-Swift-Konzert, ausgewaschenes Nirvana-Shirt oder Hotpants zu Gummistiefeln. Sprich: Sie tragen alles, was sie an einem Sommertag gerne anziehen möchten – ohne blöd angemacht zu werden.
Dass sich die Stimmung beim MS Dockville für alle respektvoll und sicher anfühlt, dafür sorgen unter anderem die Awareness-Regeln des Festivals: „Wir tolerieren keine verbale oder körperliche Gewalt. Hier sind Anstarren und Catcalling, das heißt sexuell übergriffiges Rufen, Reden, Pfeifen eingeschlossen“, heißt es auf der Webseite. Eigene Awareness-Teams, gekennzeichnet mit pinken Westen und Discokugeln, sind zudem permanent auf dem weit verzweigten Gelände unterwegs.
Dockville-Festival 2024: Weibliches Selbstbewusstsein in einer real gewordenen Utopie
Das Dockville ist eine real gewordene Utopie, wie offen und respektvoll ein Miteinander funktionieren kann. Und das Hip-Hop-Kollektiv Bangerfabrique fordert diese gemeinsam gelebte Freiheit euphorisch ein. Gerade erst haben sie den Hamburger Nachwuchspreis Krach + Getöse gewonnen, schon stehen die Rapperinnen und ihre DJs auf der Bühne mit industrie-romantischem Blick auf Hafenbecken und Rethespeicher. Mit heftig pulsierenden Songs wie „Top oder Kleid“ demonstrieren sie weibliches Selbstbewusstsein. Jeder Hüftschwung eine machtvolle Geste. Ein freudvoller Flex. Dann rufen sie noch auf, Schlafsäcke und Zelte nach dem Campen an die Initiative Hanseatic Help zu spenden. Spaß und soziale Verantwortung gehen Beat in Beat.
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Seit 2007 hat sich das MS Dockville zu dieser urbanen Spielwiese entwickelt. Und seit vielen Jahren können sich auf der Kinderfreizeit Lüttville bereits die Jüngsten kreativ ausprobieren. Der Rap-Kids-Workshop präsentiert zwei Nummern, die so frenetisch gefeiert werden wie bei großen Hip-Hoppern. Die Menge hebt die Arme rhythmisch in die Luft, als die Kleinen sprechsingen: „Helft uns, alles besser zu gestalten/anstatt uns mit euren Fehlern aufzuhalten.“ Der Vers „Sei besser als die AfD!“ erntet besonders starken Jubel, der in einen soft gehopsten Moshpit ausartet.
Dockville: Eine schöne Tradition ist der T-Shirt-Siebdruck
Eine schöne Tradition aus den Do-It-Yourself-Anfängen des Festivals ist das Siebdrucken von T-Shirts. Diesmal wird der Stoff mit einem freundlichen Monster versehen. Und in dem zur Werkstatt umfunktionierten Container wird wenige Stunden später ein kleiner Rave stattfinden. Typisch Dockville. Alles im Wandel. Ständig etwas zu entdecken.
Verschlungene Pfade führen vorbei an Ständen mit Upcycling-Mode und Schmuck, mit klassischem Handbrot oder hippem Mochi-Eis. Konstant hoher Andrang herrscht am Glitzer-Stand, wo sich das Gesicht gegen Spende mit Mini-Pailletten verschönern lässt. Das Funkeln in Blau, Rot, Grün, Gülden erstreckt sich über alle Gender und Generationen.
Das Dockville stellt permanent Optionen bereit: Wer will, kann einen geführten Kunstspaziergang unternehmen. Oder einfach ganz für sich kurz verloren gehen in einem verwunschenen Wäldchen mit Holzinstallationen. Drei Männer nehmen da gerade lachend eine Steam-Punk-Dusche mit Kunstnebel, während sich zwei Frauen an der nahen Schnapsbude einen Franzbrötchen-Shot genehmigen.
Dockville in Wilhelmsburg: Sphärische House-Klänge von DJ Fannie Mae
Dockville, das ist tagträumende Gleichzeitigkeit. Die Schweizer Band Soft Loft schickt ihren vielschichtig wie eingängig arrangierten Indie-Pop hinein in diesen bewölkten Sommersonnabend, während von hinten satte Beats herüberwehen. Denn im benachbarten „Tiefland“ tanzen die Tag- und Nachtschwärmenden gerade zu sphärischen House-Klängen von DJ Fannie Mae. Die grauen Haare hat sie lässig hochgesteckt, während sie an den Reglern agiert. Popkultur kennt kein Alter. Und ein Typ mit Schmetterlingsflügeln flattert durchs Bild.
Viele der jungen Männer, die beim Dockville auftreten, propagieren im feiernden Flow eine kritische Männlichkeit. Inbrünstig singt etwa Ivo Martin vom „Zweifel in mir drin“. Begleitet von Gitarre, Keyboard und Schlagzeug. Und lautstark umjubelt von der Menge. Hände und Handys schnellen hoch. Ein mit silbernen Fäden dekorierter Schirm schwebt ebenso über den Köpfen wie ein Einhorn-Luftballon.
Das Dockville ist wie eine fantasievolle, aber funktionale Stadt
Fünf Fußminuten entfernt wiederum wettert Popmusikerin Mine gegen Einheitsbrei und Mutlosigkeit, den sie in weiten Teilen der Musikbranche ausmacht. Und sie belegt mit ihrem klugen wie kurzweiligen Konzert das Gegenteil.
Unterdessen treiben die rund 20.000 Gäste weiter auf dem Gelände umher. Wie in einer fantasievollen und doch funktionalen Stadt. Sie nutzen Geld-, Foto- und E-Zigaretten-Automaten. Sie verweilen auf einer Skateboard-Halfpipe, in einem Holzboot oder in einer Lounge, die sich unter Brombeersträuchern versteckt. Sie können bei einem Dating-Workshop lernen, wie sich das Kennenlernen angenehm und interessant gestalten lässt. Oder sie spielen eine Runde Techno-Tischtennis – ein Ping-Pong-Rundlauf zu DJ-Sets mit charmant-gestrenger Schiedsrichterin.
Das Dockville ist Reizüberflutung und Komfortzone gleichermaßen. Und ein absoluter Glücksfall für Hamburg.