Hamburg. Zwei Liebende, die sich immer wieder verpassen, das Hamburg der Neunziger und viel Musik: Der Roman „Man sieht sich“ ist ein Hit.

Es folgt ein, aus purer Überzeugung, der Lektüretipp für diesen Sommer. Und zwar für alle Altersklassen. Nicht nur für die Leserinnen und Leser im mittleren Alter, von dem der Roman „Man sieht sich“ im Kern handelt. Obwohl, tut er das eigentlich? Weite Teile der Handlung sind in der Jugend und in den Twentysomething-Jahren von Frie und Robert angesiedelt. In den Jahren der frühen Prägung, als sie sich in einem Flensburger Gymnasium kennenlernen. Er wächst bei einer alleinerziehenden, chronisch kranken Mutter auf, sie in einem eher autoritären Elternhaus. Robert liebt Frie, aber Frie Robert nicht, zumindest nicht auf die romantische Weise.

Da wären wir dann also. In der Jugend, an diesem Ort der Unsicherheit, der Selbstfindung, des Ausprobierens und des Zaubers der ersten und intensiven Male auf allen Ebenen. Die 1970 in Hamburg geborene und in ihrer Geburtsstadt lebende Autorin Julia Karnick – manch eine dürfte sie als „Brigitte“-Kolumnistin kennen – widmet sich der ersten Phase von Frie (eigentlich Friederike) und Robert mit der Geduld, die der Adoleszenz gebührt. Die Ballade von Frie und Robert, ein Liebeslied mit Moll-Akkorden: Frie sieht Robert eher als ihren besten Freund. Er lässt es geschehen und liebt sie heimlich.

Neuer Roman „Man sieht sich“ von Julia Karnick: Unterwegs in den Neunzigern in Hamburg

Später, nach dem Abi, geht sie erst mal nach Australien und er nach Hamburg. Karnick kann das gut, im Chronistenstil Lebenswege zu umreißen. Vieles teilt sich den Lesenden über Dialoge mit, und die sind in „Man sieht sich“ so ziemlich alle gelungen. Man kann den Lebensaltern, die die Autorin, deren literarisches Debüt „Am liebsten sitzen alle in der Küche“ 2022 erschien, porträtiert und geschickt verdichtet, jede Plausibilität abgewinnen. Wer die Neunzigerjahre in Hamburg erlebt hat, dürfte bei der Lektüre eine besonders bittersüße Freude empfinden. Meanie Bar, Schanze, Kiez, das kommt hier alles genauso vor wie das WG-Leben. Aber auch wer anderswo in die ersten Kapitel des Erwachsenenlebens eintauchte, wird den Vorgang des Wiedererkennens gewärtigen.

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Wie gesagt, „Man sieht sich“ ist ein All-Ager-Buch, und dazu gehört der Blick zurück. Die Geschichte folgt Frie und Robert über mehr als 30 Jahre. Die späte Frie, die dem späten Robert ein Jungsein-„Schmarotzen“ bei ihrer studierenden Tochter Emma gesteht, erinnert sich an ihr lange zurückliegendes Ankommen in Hamburg, der Stadt, in der er längst etabliert war: „Wie eine Touristin war sie von Altona über Eimsbüttel nach Winterhude und zurück in die Schanze geradelt und hatte alles fremd und verheißungsvoll gefunden, das Hässliche wie das Schöne. Die Welt war noch da gewesen, um entdeckt zu werden, nicht, um sich darin so bequem wie möglich einzurichten. Den Verlust dieses Lebensgefühls betrauert Frie noch mehr als den von glatter Haut und Kleidergröße achtunddreißig. Es lässt sich mit keiner noch so fernen oder verrückten Reise zurückholen.“

Neues Buch „Man sieht sich“: Der erste Kuss und dann ein Fußtritt

Der Roman lebt vom ständigen Perspektivwechsel und den originellen Ideen seiner Schöpferin. Frie und Robert verpassen sich über den Zeitraum von mehr als 30 Jahren liebesmäßig immer wieder. Er wird in den Neunzigern mit seiner Band zum kleinen Indiestar (Musik, auch Bernd Begemann, spielt eine gewisse Rolle in diesem Roman, zu dem unbedingt ein guter Soundtrack gehört). Da hat er sie bereits, nachdem es endlich zum ersten Kuss gekommen war, mit einem Fußtritt aus seinem Leben hinauskomplimentiert. Klarer Fall von Herzschmerzpanik: Es hätte alles wieder so kompliziert werden können wie damals in Flensburg. Später studiert Robert Musik in Dresden, noch später wird er zum Besitzer einer Villa in der Werderstraße in Harvestehude.

Julia Karnick
Julia Karnick hat bislang zwei Romane veröffentlicht. Sie wuchs im Hamburger Speckgürtel auf. © Sabine Braun | Sabine Braun

Wie es dazu kam, soll hier nicht verraten werden. Nur so viel sei gesagt: Karnick ist eine rasante Erzählerin, und nicht zuletzt deshalb ist „Man sieht sich“ schon auf der Bestsellerliste. Überraschend? Sicher, ist das nicht immer so? Bestseller kann man nicht planen. Aber wenn man sich dieses dezent melancholische, höchst romantische Erzählwerk genau anschaut, das so selbstbewusst und souverän durch die Tiefe der Jahre marschiert und dabei, bei aller Tragik der versäumten amourösen Gelegenheiten, immer im Feelgood-Modus unterwegs ist, will man doch wieder behaupten: War doch klar. So ein Buch muss ein Hit werden, und es hat auch einfach viele Leserinnen und Leser verdient. Es dürfte längst besonders ein Liebling der Buchhändlerinnen sein, es ist fast gar nicht kitschig, und es unterhält vortrefflich.

„Man sieht sich“ von Julia Karnick: Die Geschichte einer Stehauffrau

Die weibliche Perspektive ist nicht unbedingt wichtiger als die männliche, aber im Hinblick auf das Übergewicht weiblicher Leser hat Julia Karnick ihre Frie schon ziemlich gut modelliert. Als Stehauffrau nämlich, um einen etwas modrigen Begriff zu gebrauchen, die nach einem juristischen Prädikatsexamen alleinerziehend weitermacht mit ihrem Leben, nachdem sich der Kindsvater karriereegoistisch verzogen hat. Der Plot trieft nirgends vor Feminismus, und er ist jenseits männlicher Gemeinheiten vor allem zeitlos. Sollte es Ansätze zu einer Bestsellerformel geben, hier wäre einer.

Buchcover Man sieht sich
Das Buchcover von Julia Karnicks „Man sieht sich“, erschienen bei dtv, 480 S., 23 Euro © dtv-verlag | dtv-verlag

Liebe ist, wenn man die Chance hat, sich noch spät zu finden: „Er kann immer noch sehen, was ihr Körper einmal war und nicht wieder sein wird. Er sieht Verlegenheit darüber, dass es so ist. Er sieht den Bauch, in dem ein Kind gewachsen ist, die Brüste, die es gestillt haben, er sieht Unvollkommenheit und Narben, die sichtbaren und die unsichtbaren. Er sieht die Zeit, die vergangen ist, seit er sie das letzte Mal gesehen hat, er sieht sich selbst in ihr. Er sieht das alles, und dann fühlt und schmeckt und hört er nur noch Frie.“

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Darf man mit diesem Mann eigentlich Mitleid haben?

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