Hamburg. Der preisgekrönte Franzose Nicolas Mathieu legt mit „Connemara“ einen Roman über zwei nicht mehr junge Menschen und ihre Affäre vor.

Der Sport hat noch fast überall als Metapher getaugt. Christophe, der Held in Nicolas Mathieus ganz vorzüglichem Roman „Connemara“, ist ein leicht angefetteter, etwas zu viel trinkender Anfangsvierziger, der es als Eishockeyspieler noch einmal wissen möchte. Seine Karriere als umjubelter Jungstar des örtlichen Zweitligisten ist einige Jahre her.

Die Zeit ist verronnen, vielleicht passiert das in Städten wie Épinal noch schneller als anderswo. Dass irgendwann mehr Leben und Möglichkeiten hinter als vor einem liegen. Christophe, der noch einmal vom Früher kosten will, von seinen besten Jahren, geht also wieder aufs Eis, auch wenn er den Körper dafür eigentlich nicht mehr hat.

„Connemara“: Hélène sieht Christophe zufällig wieder

Und Hélène, die nur wenig jünger ist als Christophe, erinnert sich an Christophes Charme, sie, die nach einem Burnout in Paris zurück in die heimatliche Provinz gezogen ist. Hélène sieht Christophe nach Jahrzehnten in einem Restaurant wieder, zufällig; es ist zunächst nur eine flüchtige Begegnung. Christophe muss überhaupt erst in dieser Halde namens Vergangenheit wühlen, um Hélène zu finden. Dann treffen sich Körper und Herzen.

Der 1978 in Épinal geborene und heute in Nancy lebende Autor Nicolas Mathieu, der in diesem stellenweise wirklich großartigen Roman unverkennbar über seine eigene Generation und lothringische Heimat schreibt, findet dagegen leicht einen Modus, um von den Versprechungen der Jugend, den Enttäuschungen des Älterwerdens und den rettenden Verheißungen zu erzählen, die Mittellebenskrisen beenden. Mathieu, der 2018 für seinen Roman „Wie später ihre Kinder“ den Prix Goncourt erhielt, ist studierter Soziologe. Sein Interesse für Milieus und Prägungen ist groß; nicht zuletzt deswegen kann man im Hinblick auf seinen neuen Roman von einem fulminanten Gelingen sprechen.

Mathieu erzählt auch von den Kindheiten der Figuren

Mit ein paar Pinselstrichen gelingt es ihm, etwa die Welt der Vertreter lebendig werden zu lassen. Christophe, der sich das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn mit seiner Expartnerin teilt, ist fahrender Tierfutterverkäufer. Was so unglamourös ist, wie es klingt, und außerdem ungesund. Die langen Fahrten, das schlechte Essen. Die Handlung ist im Jahr 2017 angesiedelt, dem Jahr, in dem der sich frisch gebende, Effizienz predigende Emmanuel Macron ins Präsidentenamt wählen ließ.

Die Zeitgeschichte ist die Umrahmung des libidinösen und familiären Geschehens. Dass er seine Hélène eine erfolgreiche Unternehmensberaterin sein lässt, gibt Mathieu die Gelegenheit, die Welt der Consulting-Firmen unbarmherzig ins Visier zu nehmen. Was das angeht, ist der Erzähler sonst zurückhaltend: Mathieu, der souverän die Zeitebenen wechselt und etwa auch von den Kindheiten Hélènes und Christophes erzählt, urteilt nicht.

„Connemara“: Ein Tableau des Menschlichen

Vielmehr präsentiert er ein Tableau des Menschlichen, in dem die Antriebe und Sehnsüchte von einst in der Gegenwart neu belebt werden müssen. Hélène ist im Grunde die noch interessantere Figur, eine Frau, die sich aus kleinen Verhältnissen emporarbeitet und dafür den Preis der Distanzierung vom Elternhaus zahlt.

In der Gegenwart stockt die Karriere vor allem, weil Männerbünde die Szenerie beherrschen. Berufliche Möglichkeiten trennen die Geschlechter, das titelgebende „Les lacs du Connemara“, Michel Sardous pathetischen Chanson aus dem Jahr 1981, stimmen Männer und Frauen, zumal im betrunkenen Zustand, dagegen gemeinsam an.

„Connemara“: Ein Roman über die mittleren Lebensjahre

Mathieus Figurenzeichnungen sind, bis in die Nebenfiguren hinein, sensibel, auf beinah anrührende Weise zart. Christophes Kindheitsfreund, der immer noch da ist und hartnäckig alleine lebt; Christophes Vater, der demente Witwer, dessen einziger Lebensinhalt der Enkelsohn ist. Und das Liebespaar selbst, deren Annäherung Mathieu ohne jeglichen Spannungsbogen beschreibt, wie überhaupt der Reiz, der Thrill und das Können des Autors in den Szenen des Alltäglichen liegen. Hélène und ihre Töchter, Hélène und ihr Mann Philippe, die sich eher souverän als verzweifelt auseinandergelebt haben.

„Connemara“ ist ein Roman über Frankreich, Eishockey, über dysfunktionale Familien und die mittleren Lebensjahre. Ein Roman über eine Affäre, in der zwei nicht mehr junge Menschen ihre Unsicherheiten hinter sich lassen, zum Beispiel die, ob sie noch attraktiv genug sind, wenn sie keine Klamotten mehr an haben. Sexszenen in der Literatur können nur schief gehen, aber hier sind sie ganz passabel: „Sie küsste ihn und suchte seine Haut unter dem T-Shirt, ihre Hände fuhren über seine Brust, als wollte sie ihn wärmen.“