Hamburg. Eine ganze Saison lang hat Neumeier als Direktor vom Hamburg Ballett Abschied genommen. Nun war es so weit. Ein bewegender Abend.
Spricht er etwas schneller als sonst? Klingt seine Stimme rauer? Zum 49. Mal tritt John Neumeier im Großen Haus der Staatsoper vor den Vorhang, um die Nijinsky-Gala zu moderieren. Mit ihr, traditionell ein Abend in Überlänge, gehen seit jeher die Hamburger Ballett-Tage zu Ende.
Alles schon da gewesen, die Menschen mit „Suche Karte“- Schildern draußen vor den Eingängen zum Foyer und der hohe Elfen-Anteil drinnen, die Abendroben, die Gesprächsfetzen mit den Namen der Lieblingstänzer. An diesem Abend aber ist die emotionale Temperatur etwas höher, ist auf manchen Gesichtern unterschwellige Nervosität zu sehen.
Die 51. Saison als Ballettchef hatte Neumeier noch dazubekommen, aber nun ist sein Abschied vom Hamburg Ballett unwiderruflich da. Für viele Menschen hat er fünf Dekaden lang zu ihrem Leben gehört. Er nimmt etwas mit von diesen Leben. Alles sieht aus wie immer – und zugleich schwebt über dem Vertrauten, über dem gut Eingeübten das Wort „Endlichkeit“.
John Neumeier: Ein letztes Mal tanzt das Hamburg Ballett unter seinem Direktor die Nijinsky-Gala
John Neumeier geht offen damit um. Zum Abschied konzentriert er sich programmatisch auf die eigene Compagnie und auf das Ballettzentrum. Die Ballettschule tanzt zu vier vom Band eingespielten Songs von Stephen Foster aus der Choreografie „Yondering“ von 1994 – amerikanisch, jugendlich leicht und anrührend auch deshalb, weil man an Neumeiers eigene Jugend denken muss, die er ja schon in seiner letzten Uraufführung „Epilog“ zum Thema gemacht hatte.
Bundesjugendballett zieht ins Ernst Deutsch Theater – mit seinem Intendanten John Neumeier
Auch das Hamburger Kammerballett mit Tänzerinnen und Tänzern aus der Ukraine arbeitet im Ballettzentrum. Gegründet hat die Compagnie der Erste Solist des Hamburg Balletts Edvin Revazov, selbst Ukrainer, nach dem russischen Überfall 2022. Er hat auch den langsamen Satz aus Beethovens „Eroica“ choreografiert. Die Musik ist ein Trauermarsch, die Kleidung schwarz und petrolfarben, die Bewegungen sind rasch und manchmal puppenhaft. Man kann kaum umhin, dieses „Unbound“ als Allegorie auf den Krieg zu verstehen, mit aller Angst, allem Trennungsschmerz, allen psychischen Beschädigungen.
Nachdem das Bundesjugendballett eine gekürzte Fassung des verspielten „In the Blue Garden“ getanzt hat, erzählt Neumeier, dass der neue Direktor – gemeint ist Neumeiers Nachfolger Demis Volpi – entschieden habe, im Ballettzentrum sei nicht genug Platz für das Bundesjugendballett. „Das bricht mein Herz.“ Ganz so ist es freilich nicht. Noch am selben Abend gehen zwei Pressemitteilungen hinaus: Das Bundesjugendballett wird in der Staatsoper und im Ernst Deutsch Theater proben und nach Möglichkeit auch im Ballettzentrum.
Gustav Mahlers Musik ist ein Markenzeichen der Compagnie
Zum Schluss kündigt Neumeier Musik von Mahler an, die er so oft choreografiert hat. 1975 hatte er „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ auf die Bühne gebracht. Deren sechster Satz ist überschrieben „Was mir die Liebe erzählt“. Neumeier erzählt von der „Arbeit der Liebe“, die ihn mit Hamburg verbinde, dankt dem Publikum und wünscht ihm für die Zukunft … da bricht ihm die Stimme, und er flüstert noch: „… alles Gute. Danke.“
Bei den ersten Takten hört man ein paar Schnäuzer im Publikum. Über weite Strecken gehört der Satz Alina Cojocaru, dem Hamburg Ballett seit vielen Jahren als Gast verbunden, und Edvin Revazov allein. Immer wieder hebt er sie, hält sie für gefühlte Ewigkeiten scheinbar mühelos in der Luft, dreht sich mit ihr und noch mal und noch mal. Als sich gegen Ende des Satzes die Bühne mit immer mehr Tänzerinnen und Tänzern des Hamburg Balletts füllt, erscheint im Hintergrund ein Herr im schwarzen Anzug. Edvin Revazov umarmt ihn, dann treten alle ab. Spot auf Neumeier. Zum trompetenüberglänzten Schluss überquert Cojocaru ein letztes Mal die Bühne. Neumeier wendet sich nach ihr um, streckt die Arme zur Seite, so, als könnte er sie halten. Aber da ist sie schon fast verschwunden.
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Applaus, Bravorufe, Verbeugungen. Wie am Ende jeder Nijinsky-Gala kommen sie alle noch mal auf die Bühne, die Jungs von der Ballettschule verteilen Dutzende Blumensträuße, das Team kommt dazu, die Musiker und die Sängerinnen, es regnet Konfetti. 22 Minuten lang geht das so. 22 Minuten Applaus. Dann bleibt der Vorhang unten. Bald ist Mitternacht.
Und am Folgetag ist Sommerpause. Die Welt wird sich weiterdrehen.