Hamburg. Alina Cojocaru ist eine der Tänzerinnen-Musen von John Neumeier. Freitag und Sonntag ist sie bei den Hamburger Ballett-Tagen zu sehen.
Manchmal schießt das Adrenalin nach einer gelungenen Premiere so prickelnd durch die Blutbahnen der beteiligten Künstler wie das Böllergefunkel am Himmel zu Silvester. Dann herrscht hinter der Bühne Hochstimmung, und jeder ist mehr als bereit, auf der anschließenden Premierenfeier die Ovationen von Kollegen, Team und Fans entgegenzunehmen.
Am Sonntag vorvergangener Woche aber war es anders für Alina Cojocaru. Als sie ins Foyer der Staatsoper kam und der Beifallssturm über sie hereinbrach, fühlte sie sich dem Jubel nicht gewachsen. Sie war noch immer woanders, war immer noch da oben, in der Bergabgeschiedenheit weit hinten auf der Bühne, wohin sich die blinde Solveig in John Neumeiers Vision von Henrik Ibsens „Peer Gynt“ zurückgezogen hatte, um auf die Rückkehr ihres durch die Welt vagabundierenden Helden zu hoffen.
„Ich hatte nicht damit gerechnet, dass mir das passieren würde“, sagt sie. „Solveig macht ja nichts, sie sitzt nur da und wartet. Aber all das, was über die Jahre des Wartens in ihr vorgeht... Ich habe mich so sehr in sie hineinversetzt, dass ich länger gebraucht hätte, um nach der Premiere rauszugehen, zu lächeln und einfach froh zu sein.“
Ein Stadtkind, dass jeden Sommer auf dem Land verbringt
Manche Vorstellungen sind so. So außergewöhnlich und intensiv, dass sich das auch dem Publikum mitteilt. Alina Cojocaru, diese junge Frau von 34 Jahren, sehr klein, sehr zierlich in ihrem enorm zähen Hochleistungstänzerinnenkörper, ist ja schon seit einigen Jahren eine der großen Neumeier-Musen.
Aber die Solveig verkörpert sie in dieser von ihm neu bearbeiteten Choreografie so ergreifend lebensnah, dass es wirkt, als habe er die Rolle für sie kreiert. Es ist etwas Gradliniges und Geheimnisvolles in ihrem Wesen, eine bäuerlich anmutende Schlichtheit, etwas Urmenschliches und sehr Naturnahes. Dabei ist Alina Cojocaru in Bukarest geboren und aufgewachsen, bis sie neun Jahre alt war.
Ein Stadtkind aus dem tiefsten Osten Europas, geboren zu einer Zeit, als das Land noch im eisernen Klammergriff des Diktators Nicolae Ceausescu steckte und uns im Westen fern und unheimlich erschien wie Graf Draculas Transsilvanien? Ja und nein. Die Eltern betrieben ein Lebensmittelgeschäft in der Hauptstadt. „Aber jeden Sommer war ich bei den Großeltern auf dem Land“, sagt Cojocaru. Und erzählt von den Bergen, vom Draußensein. Über die Natur sagt sie einen starken, einfachen Satz: „Ich verstehe sie.“
In John Neumeier fand sie ihren Meister
Das spürt man, wenn man sie tanzen sieht. Hier ist nicht einfach eine technisch brillante Ballerina am Werk, hier tanzt sich eine Künstlerin Abend für Abend möglichst nah an ihre eigene Natur heran, an ihre Seele und an ihr Herz. Sie weiß, dass es auch dem Publikum im Grunde darauf ankommt, viel mehr als auf die Perfektion der Ausführung all der Pliés und Battements und Pirouetten und Sprünge. Von alleine hätte sie das vielleicht nie entdeckt. Sie hätte sich weiter in dem Exzellenzwettkampf namens Internationale Ballettwelt verausgabt, hätte nur trainiert und trainiert und trainiert und gelesen und sich Fragen gestellt.
In John Neumeier aber fand sie wie so viele vor ihr ihren Meister: „Seine Art der Choreografie gründet auf den Gefühlen, auf der Geschichte. Wenn ich seine Frauenfiguren tanze, spüre ich ihren Hintergrund, ihre Erfahrungen, spüre, wie sie wurden, was sie sind in dem Moment, wo sie auf die Bühne kommen. Andere Choreografen nehmen Bewegung an sich als Grundlage; das kann auch aufregend sein und dynamisch. Aber wachsen tut man dabei nicht.“
Alina Cojocaru hat eine ähnliche Lebensgeschichte wie Li Cunxin, der 20 Jahre ältere Chinese, der durch seine Autobiografie und einen darauf basierenden Film als „Maos letzter Tänzer“ berühmt wurde. Mit sieben Jahren hatte sie mit Gymnastik begonnen: „Darin exzellierte das kommunistische Rumänien“, erzählt sie. Dann gefiel ihr das nicht mehr, und ein Freund der Familie sagte: „Sitz nicht zuhause rum mit all deiner Energie. Geh zum Ballett.“
Cojocaru, die nie eine Ballettvorstellung besucht hatte, bestand die Aufnahmeprüfung an der Ballettschule, und als 1990 der Direktor der Kiewer Ballettschule auf Talentsuche nach Bukarest kam, nahm er Alina und acht weitere Kinder kurzerhand zur ernsthaften Ausbildung mit nach Kiew. 900 Kilometer, ein Land und eine Sprache weit weg. „Ich habe viele Parallelen zu Cunxins Werdegang gefunden“, sagt Cojocaru. „Die Kämpfe, das Vermissen der Familie, die Leidenschaft fürs Ballett trotz allem. Alles, was ich erlebt habe, stand in seinem Buch.“
Geheiratet wird, wenn Zeit dafür ist
Später lernte sie an der Schule des Royal Ballet London, dem sie vor vier Jahren im Dissens den Rücken kehrte. Seitdem ist Cojocaru beim English National Ballet unter Vertrag, der ihr nahezu alle Freiheit lässt. Sie tanzt auch in New York und in Tokio und in Hamburg und Bukarest so häufig, dass sie außer in London auch in diesen beiden Städten Wohnungen unterhält.
Mit dem Dänen Johan Kobberg bildete sie jahrelang eines der heißgeliebten Traumpaare des Balletts auf und abseits der Bühne. Nun, da Kobberg seine Tänzerlaufbahn zugunsten seiner Aufgabe als künstlerischer Leiter des Balletts der Oper Bukarest etwas in den Hintergrund treten lässt, tanzt Cojocaru meist mit anderen Partnern und reist neuerdings manchmal wochenlang allein von Bühne zu Bühne. Bei der Nijinsky-Gala am Sonntag tanzt das Paar einen Pas de deux aus „La Sylphide“. Sehr romantisch, das. Und die beiden auch: An ihrem 30. Geburtstag machte John Kobberg seiner Alina einen Antrag – auf der Bühne der Met in New York. Geheiratet wird, wenn die Vielbeschäftigten Zeit dafür haben.
Die Vorstellung von „Giselle“ bei den Ballett-Tagen ist ausverkauft, auch die Nijinsky-Gala am Sonntag