Hamburg. Dem Chef des Hamburg Balletts gelingt mit „Epilog“ ein überraschend leichtes Abschiedsstück. Zum Schluss gibt es einen Schlag in die Magengrube.
„Was ich noch zu sagen hätte / Dauert eine Zigarette / Und ein letztes Glas im Steh’n“, hieß es bei Reinhard Mey. John Neumeier nimmt sich ein bisschen mehr Zeit für „Epilog“, seine letzte Choreografie nach 51 Jahren als Intendant des Hamburg Balletts, die gleichzeitig die diesjährigen Hamburger Ballett-Tage eröffnet: Gut zweieinhalb Stunden dauert das Stück, zweieinhalb Stunden, gefüllt mit großen Bildern und noch größerem Tanz, melancholisch und fröhlich, abstrakt und konkret, manchmal pathetisch, manchmal an der Grenze zum Kitsch (aber zum Glück nur an der Grenze). Und nie langweilig.
Ein „Epilog“, das ist eigentlich ein Nachwort, ein paar Sätze, die nach dem Ende eines Theaterstücks oder einer Erzählung folgen und die das eben Abgeschlossene noch einmal zusammenfassen, in einem neuen Licht erscheinen lassen, Fragen beantworten, Fragen aufwerfen, einen Ausblick in die Zukunft geben. Ob der Titel für den Abend in der Staatsoper wohl korrekt ist?
John Neumeier fängt bei „Epilog“ mit dem Hamburg Ballett einfach noch einmal von vorn an
Denn Neumeier fasst nicht zusammen, er fängt einfach von vorn an, indem er noch einmal auf die Bühne geht. Das vom Choreografen selbst entworfene Bühnenbild zeigt zunächst eine Kulisse, einen gemauerten Turm, allerdings von hinten, von der Hinterbühne aus: Man sieht, dass das Mauerwerk aus Sperrholz besteht, man erkennt Streben, Schrauben, Beschriftungen. Und wenn Caspar Sasse durch dieses Bühnenbild aufs Publikum zuschreitet, dann geht er eigentlich ab, er geht in die Kulisse: Das Stück ist zu Ende, der Tänzer verlässt die Bühne, aber die Bühne selbst immer noch da, bildet einen Kosmos, in dem sich „Epilog“ bewegt. Neumeier entwirft eine Welt, doch er entwirft sie in umgekehrter Reihenfolge.
Gerade im ersten Teil des Abends gelingen ihm immer wieder solche auf den ersten Blick einleuchtende Szenen: Ganz konkrete Bilder sind das, das Tableau vivant einer Familie am Abendessenstisch etwa, in das sich der Tänzer einfügen will, aber nie wirklich dazugehört. Oder eine lange Menschenreihe, die sich ausdruckslos die Rampe entlangbewegt, wo Gefährten umarmt werden, um dann stumm weiterzugehen. Man denkt an die Achtzigerjahre, als die Aids-Epidemie zu wüten begann, an Begegnungen, Berührungen und Verabschiedungen, und man hat einen Kloß im Hals.
John Neumeier verzichtet in „Epilog“ auf eine durchgehende Handlung
Dabei verzichtet „Epilog“ auf eine durchgehende Handlung – gezeigt wird keine Lebensgeschichte, es gibt nur einzelne Motive, die kurz aufscheinen, um dann wieder zu verschwinden in einem langen Erinnerungsstrom. Neumeier, der nicht zuletzt als Meister des Erzählballetts in die Geschichte eingehen wird, hat hier zwar kein zu 100 Prozent abstraktes Werk geschaffen, aber er choreografiert in Richtung Abstraktion, angetrieben weniger vom Inhalt als von der Musik, von Franz Schubert, Richard Strauss, Simon & Garfunkel.
Ganz unterschiedliche Kompositionen sind das, die jeweils eigene Erinnerungsräume aufmachen. „Die Songs von Simon & Garfunkel haben mich begleitet, seit ich sie in einer einsamen Wohnung in Frankfurt hörte, als ich 1969 Ballettdirektor wurde“, verrät der scheidende Intendant im (unbedingt lesenswerten) Programmbuch – so funktioniert dieses Stück, als Springen von Assoziation zu Assoziation. Von Tanz zu Tanz, von Musik zu Musik, von Berührung zu Berührung, von Körper zu Körper.
„Epilog“ – ein Ballettabend aus Puzzleteilen
Der Pianist David Fray befindet sich mit seinem Flügel auf der Bühne und tritt immer wieder in Dialog mit den Tänzerinnen und Tänzern. Fray, der sich insbesondere bei Schubert an einen nahezu schmerzhaft harten Anschlag wagt, hat schon einmal mit Neumeier zusammengearbeitet: 2020 bei „Ghost Light“. Und an dieses Krisenstück, kreiert in der Pandemie, als Tanz nur unter massiven Einschränkungen entstehen konnte, erinnert auch „Epilog“. Weil beide Abende bewusst fragmentarisch sind, „Ghost Light“ als Ballett in Zeiten, in denen Ballett eigentlich nicht möglich ist, „Epilog“ als Erinnerung, die sanft verweht.
Sanftheit, Leichtigkeit, gar Humor waren nie wirklich das Metier dieses Choreografen. Umso bemerkenswerter ist es, wie leicht dieser Abend manchmal daherkommt: mit einem riesigen Aquarell des Hobbymalers Neumeier etwa, das still über die Bühne geschoben wird, um dann Richtung Theaterhimmel zu entschweben. „Ich behaupte nicht, dass dieses Aquarell ein großes Kunstwerk ist“, sagt er. „Es ist ein Aspekt von mir, ein Puzzleteil (…)“.
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Aus solchen Puzzleteilen ist der Abend zusammengesetzt. Ein weiteres, leichtes Puzzleteil ist ein berührender Pas de deux zwischen Alina Cojocaru und Jacopo Bellussi nach der Pause, als die Erinnerungsbilder ihre Konkretion verlieren und die Tanzsprache stärker ins Zeitgenössische ausgreift.
Getanzt ist das extrem sicher, wobei auffällt, welche Tänzer im Mittelpunkt der Choreografie stehen: Louis Musin und Caspar Sasse, mit denen „Epilog“ beginnt, sind hochtalentierte Tänzer, aber es sind eben keine Stars beim Hamburg Ballett, Solist der eine, Aspirant der andere. Stars, das sind Anna Laudere oder Ida Praetorius, Mattias Oberlin oder Alexandr Trusch, die hier eher zuarbeitend agieren: „Epilog“ mag ein Stück sein, in dem ein Jahrhundertchoreograf zurückblickt, aber es ist auch eine Staffelübergabe an diejenigen, die die Zukunft des Tanzes sind. Und es spricht dann auch für die Ensemblestärke und für die Führungsqualitäten des Intendanten, wenn man sieht, mit welcher Leidenschaft seine Stars auch kleinere Auftritte absolvieren. Es sagt aber auch etwas aus, wie Neumeier hier die Hierarchien einer klassischen Ballettkompanie zu unterlaufen versteht.
„Für ,Epilog‘ habe ich mir vorgenommen, möglichst das gesamte Ensemble einzubeziehen, aber nicht zwanghaft“, beschreibt Neumeier seine Personalpolitik. Und vielleicht ist der Halbsatz am Schluss ein Schlüssel zu der Arbeit: „nicht zwanghaft“. Es geht darum, sich von Zwängen zu lösen, loszulassen, Leichtigkeit zuzulassen. „Kein Mensch muss müssen“, steht in Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“, ein Motto, das auch über diesem Abend stehen könnte.
Nur gibt es eine Fortsetzung dieses Mottos, und die besagt, dass jeder Mensch sterben muss. Im letzten von Strauss’ „Vier letzten Liedern“ heißt es mit Joseph von Eichendorff: „O weiter, stiller Friede / So tief im Abendrot / Wie sind wir wandermüde – / Ist dies etwa der Tod?“ Asmik Grigorian singt die Zeilen mit kräftiger Stimme, und plötzlich schleicht sich wieder die Melancholie ein in die Freude darüber, gerade einen rundum beglückenden Ballettabend erlebt zu haben: „Ist dies etwa der Tod?“ Als letzte Worte, die John Neumeier in Hamburg hinterlässt, ist das ein Schlag in die Magengrube.
Epilog wieder am 2. und 4. Juli, 19 Uhr, dann wieder ab November, Staatsoper Hamburg, Große Theaterstraße 25, Tickets unter Tel. 040/356868 und unter www.hamburgballett.de