Hamburg. Der scheidende Ballett-Intendant zeigt überraschend aggressive Ausschnitte aus sakralen Werken und spricht mit Bischöfin Fehrs über den Glauben.
„Ich bin Christ und Tänzer“, der Titel der Veranstaltung mit John Neumeier im Michel, trägt ein bisschen Eulen nach Athen. Weil jeder, der ein paar Stücke Neumeiers kennt, weiß, dass der scheidende Ballett-Intendant tiefgläubig ist, die christlichen Motive in seiner Bildsprache sind unübersehbar. Und dieser Künstler bekennt im Gespräch mit Bischöfin Kirsten Fehrs: „Ich bin Christ und Tänzer“? Ist solch ein Bekenntnis nicht ein bisschen aufgesetzt?
Nein, ist es nicht. Weil der Satz nicht aus dem Jahr 2024 stammt, nach vielen großen Ballettabenden zu sakraler Musik, sondern aus dem Jahr 1980. Damals hatte Neumeier Skizzen zu seiner „Matthäus-Passion“ im Michel aufgeführt, was vor 43 Jahren noch beinahe zu einem Skandal geführt hätte. Und damals war es entsprechend wichtig, klarzustellen, dass die Kirche auch das Haus des Choreografen war.
John Neumeier: Michel-Bühne verleiht den Tanzstücken religiöse Tiefe
Na ja, um genau zu sein, ist Neumeier katholisch. Und dennoch ist das Gespräch mit Fehrs, einfühlsam moderiert von Ballett-Kommunikationschef Jörn Rieckhoff, das Zusammentreffen von zwei Menschen, die in unterschiedlichen Disziplinen ihren Glauben verbreiten, der Choreograf im Tanz, die Bischöfin in der Predigt.
Also wird getanzt. Immer wieder wird der Gedankenaustausch unterbrochen von Ausschnitten aus wichtigen sakralen Choreografien Neumeiers, viel aus der „Matthäus-Passion“ natürlich, aber auch aus „Magnificat“ (1987), aus „Weihnachtsoratorium I–IV“ (2013), aus „Requiem“ (1991), als einzige Gruppenchoreografie des Abends getanzt von Schülern der Ballettschule. Das Kirchengebäude erweist sich zunächst als nicht optimal geeignet, die Bühne ist zu hoch, man erkennt die Beinarbeit nur, wenn man einen Platz auf der Empore ergattert hat, außerdem fehlt das für diese Choreografien eminent wichtige Licht. Und dann passt es eben doch: weil der sakrale Raum den Stücken eine überraschende weitere Ebene zufügt, eine religiöse Tiefe jenseits des Tanzes.
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Ausgewählt wurden überraschend aggressive Nummern: Dieser Glaube ist nicht ätherisch, er ist handfest und zeigt sich in wütend aufstampfenden Füßen. Umgesetzt wird das mit beeindruckender Leidenschaft, unter anderem von Almudena Izquierdo und Giuseppe Conte vom Bundesjugendballett, die „Air“ aus „Bach-Suite 3“ (1981) tanzen, Kohana Williams im Solo „Deposuit“ aus „Magnificat“ und Louis Musin, der für den verhinderten Aleix Martínez in „Kyrie“ aus „Dona Nobis Pacem“ (2022) einspringt (und dabei eine tolle Figur macht). „Wie die Freude am Gotteslob aus allen Poren dringt!“, zeigt sich Moderator Rieckhoff begeistert.
Und diese Freude ist am Ende die Quintessenz des Abends. In Neumeiers Stücken ist Freude immer wieder zu spüren, Freude und Hoffnung, selbst im drastischen „Dona Nobis Pacem“, entstanden kurz vor dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine. Und Hoffnung ist dann die Verbindung zum Glauben: „Es geht darum, die Welt nicht verloren zu geben“, so das Schlusswort von Bischöfin Fehrs.