Der Glaube ist bei John Neumeier ein wichtiger Bestandteil seiner Arbeit. Der Chef des Hamburg Balletts gilt als Experte für sakrale Tanzkreationen. Wenn er Zeit hat, geht er in die Kirche St. Elisabeth in Harvestehude
Wenn er wirklich einmal Zeit hat zum Besuch der Messe, dann geht er hinüber nach St. Elisabeth. In der Welt gefeiert als einer der erfolgreichsten Choreografen, sitzt John Neumeier dann ganz bescheiden zwischen anderen Gläubigen in der Kirche an der Oberstraße in Harvestehude im Sonntagsgottesdienst oder in einer der Messen am Abend. Oft komme er aber nicht mehr dazu, neben all seinen Verpflichtungen als Chef des Hamburg Ballett und Ballettintendant der Hamburgischen Oper, neben Neuerarbeitungen mit der Compagnie, Wiederaufnahmen und Tourneen. Früher sei das anders gewesen, als Kind. „Wir gingen jeden Sonntag in die Kirche.“ Der Vater deutsch, die Mutter aus einer polnischen Familie, wuchs John Neumeier im US-amerikanischen Milwaukee (Wisconsin) katholisch auf. Bis heute steht er zu seinem Glauben, ist fest davon überzeugt, dass es bei der christlichen Religion in ihren tiefsten Wurzeln um Liebe und Menschlichkeit geht. Und dieser Glaube ist wichtiger Bestandteil auch seiner künstlerischen Arbeit.
Als Jugendlicher ist John Neumeier eine Mehrfachbegabung. Literatur, Theaterwissenschaft, Tanz, Malerei, Zeichnung – er fängt früher als andere an der Universität an zu studieren. „Damals war ich überhaupt nicht sicher, wohin ich gehöre“, sagt er. Keine einfache Zeit. Bis Pater John J. Walsh, der auf dem Campus das Universitätstheater Teatro Maria leitet, den jungen John Neumeier dort beim Tanztraining an der Stange sieht. „Du musst tanzen“, sagt der Jesuitenpater, der dem jungen Studenten mit diesen klaren Worten nicht nur eine Richtung gibt, sondern als Mentor auch zu einem der wichtigsten Menschen in seinem weiteren Leben wird. John Neumeier verstärkt sein Tanztraining, fährt neben den drei Unterrichtstagen in Milwaukee zweimal die Woche zum Unterricht nach Chicago, um auch wirklich jeden Tag tanzen zu können, geht nach Kopenhagen und London. Zweifel über den Weg, den er einschlagen wird, gibt es da schon lange nicht mehr.
Zu sakraler Musik zu tanzen galt Ende der 70er als Sakrileg
„Pater Walsh zu treffen war für mich die wichtigste Begegnung“, sagt John Neumeier heute. „Er war professionell, geistlich und spirituell ein großes Vorbild für mich.“ Von ihm lernt John Neumeier, dass die Berufung zum Künstler genauso stark ist wie die Berufung, ein Priester zu sein: „Wenn du dieses Privileg hast, musst du dich ihm ganz widmen, dich hingeben und dich mit allen Möglichkeiten vorbereiten.“
1963 kommt John Neumeier nach Deutschland, tanzt am Stuttgarter Ballett und wird Ballettdirektor in Frankfurt, bevor August Everding den damals erst 31-Jährigen 1973 als Leiter des Hamburg Balletts an die Elbe holt. Als John Neumeier hier Ende der 70er-Jahre anfängt, zur Musik von Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion mit seiner Compagnie ein Ballett zu kreieren, stößt er vor allem bei Journalisten und Musikwissenschaftlern auf heftige Kritik. Sakrale Musik tanzen – vielen gilt das als Sakrileg. John Neumeier ist da ganz anderer Auffassung. „Die erste große Arbeit, die wir in Milwaukee mit Pater Walsh gemacht hatten, war das Mysterienspiel ‚Ludus coventria‘. Es bestand aus Musik und Tanz, begann bei der Erschaffung der Welt und ging bis zum jüngsten Gericht. Ich selber tanzte den Christus und machte die Choreografie. Für mich war es von Anfang an selbstverständlich, dass ich meinen Glauben tanzen darf.“ John Neumeier will seine Kunst auch jetzt nicht von seiner Spiritualität trennen, nimmt sich das Recht, für seine Bewunderung, seine Zweifel und sein Staunen auch christlichen Texten gegenüber eine künstlerische Form zu finden. Wie zur eigenen Vergewisserung schreibt er in dieser Zeit den Aufsatz „Ich bin Christ und Tänzer“. Dort heißt es: „Menschliche Einheit – vielleicht war das das wichtigste Erlebnis und die überwältigendste Erfahrung bei der Arbeit mit der Matthäus-Passion.“ Eins-sein mit anderen – es scheint, als hätte er im Arbeiten für einen Moment das Grundproblem des Menschen, das Allein-in-die-Welt-Geworfensein, überwunden. 1981 wird die Matthäus-Passion als Ballett in Hamburg uraufgeführt. Und am Ende doch bejubelt. Seit der Premiere wurde sie mittlerweile an die 200-mal gezeigt. Es folgen 1987 „Magnificat“ zur Musik von Johann Sebastian Bach, 1991 Mozarts „Requiem“, 1999 der „Messias“ von Georg Friedrich Händel, 2007 und 2013 das Weihnachtsoratorium von Bach. Sakrale Musik als Ballett ist längst fester Bestandteil des theatralen Raums. Und John Neumeier darin ein Experte. Als Rudolf Nurejew – damals Direktor des Pariser Opernballetts – den jungen Kollegen aus Hamburg einlädt, eine Kreation für die Pariser Oper zu machen, sagt er: „Am liebsten etwas von Bach, weil du doch ein Experte für ,religious masterpieces‘ bist!“
Obwohl er als Tänzer und Choreograf die sakrale Musik so liebt, kann sich John Neumeier nicht vorstellen, Tanz auch in die Liturgie eines Gottesdienstes einzubinden. „Wahrscheinlich würde mich das immer ein bisschen peinlich berühren“, sagt er.„Das, was ich mache, ist ja etwas anderes: Es ist Theatertanz.“ Und der sei immer für andere Menschen gedacht, aber nicht missionarisch.
John Neumeier ist Schirmherr für den Orgelneubau in Großhansdorf
„Für mich ist Tanz eine ganz persönliche Auffassung in Form eines Dialogs mit Gott, mit Göttern oder irgendeiner Macht – wie man es sehen mag. Aber wir halten eben nicht Händchen, sondern wir versuchen ganz kontrolliert im Tanz andere Zustände darzustellen, sie zu transzendieren.“
John Neumeier hat vor Kurzem die Schirmherrschaft für den Orgelneubau in der Großhansdorfer Auferstehungskirche übernommen. „Wenn man Kunst mit Religion verbindet, dann sollte die Kunst so gut wie möglich sein“, begründet er sein Engagement. „Dass die Gemeinde nicht einfach irgendeine Orgel kauft, sondern eigens eine Orgel bauen lässt, das bewegt mich zutiefst.“
Wiederaufnahme des Balletts „Messias“ von Georg Friedrich Händel ab dem 18. April in der Hamburgischen Staatsoper. Ausschnitte aus der Matthäus-Passion zugunsten des Orgelbaus (Auferstehungskirche Großhansdorf, Alte Landstr. 20) sind für den 15. Mai um 20 Uhr zusammen mit John Neumeier und Bischöfin Kirsten Fehrs geplant.