Hamburg. Olaf Scholz war einer der Gäste der bewegenden Choreografie „Dona Nobis Pacem“ des scheidenden Intendanten John Neumeier.

Frieden. Wer würde ihn derzeit nicht herbeisehnen und all jenen wünschen, die sich mitten im aktuellen Kriegsgrauen befinden. Der Krieg, er prägt auch John Neumeiers voraussichtlich letzte Uraufführung als Intendant des Hamburg Balletts in der Hamburgischen Staatsoper – ganz genau weiß man das nicht, ein Epilog von einer zusätzlichen Saison wird ja noch folgen. An diesem Abend aber wird er einhellig gefeiert, ein Ehrengast ist im Publikum – und die jüngste „Othello“-Kontroverse in Dänemark wirkt da sehr weit weg.

Neumeier hat sich als Absolvent einer Jesuiten-Universität lebenslang auch künstlerisch mit Glaubensfragen auseinandergesetzt. Für „Dona Nobis Pacem“ („Gib uns Frieden“) hat der Hamburg Ballett-Chef Choreografische Episoden kreiert, inspiriert von Johann Sebastian Bachs Messe in h-Moll. Erneut verantwortet er neben der Choreografie auch Bühnenbild, Licht und Kostüme.

Hamburg Ballett: John Neumeiers "Dona Nobis Pacem" beginnt düster

Schon der Beginn ist eindringlich und düster. Der wunderbare Aleix Martínez tritt als namenlose Erzählerfigur „ER“ auf. Er hat es eilig und verliert das Innere seines Koffers, darin Fotografien, vielleicht ein ganzes Leben. Im Hintergrund ist eine Fotowand zu sehen, dahinter wiederum Barrikaden eines Frontverlaufs. Ein Fotograf und eine Witwe wandern umher, auf der Suche nach verlorenen Menschen, Bildern, Hoffnungen.

Bald macht der von Lennard Giesenberg gegebene Fotograf Nahaufnahmen von Martínez‘ Körper, die auf einer Videowand eindringlich in grobkörnige Schwarz-Weiß-Bilder übertragen werden. Martínez offenbart gleich zu Beginn sein einzigartiges Bewegungsvokabular, das über das Ballett weit hinausreicht.

Er zeigt athletische Bodenrollen, faltet sich aus der Liegeposition in den Stand und umgekehrt. Mit seinem ausdrucksstarken Tanz und Spiel macht er tiefe Gedanken zwischen Vertrauen und Zweifeln sichtbar. John Neumeier gibt dem Ersten Solisten diesen Raum. Tänzerisch präsentiert er durchaus Anleihen beim zeitgenössischen Tanz und wird auch damit zum aufregenden Fixstern des Abends.

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Der Ballett-Abend steht unter dem Eindruck des Kriegs gegen die Ukraine

Die Bühne wirkt wie eine Zuspitzung vergangener Ballett-Abende. Der Schützengraben stammt aus „Duse“, die Backsteinwände aus „Verklungene Feste“ und auch die goldene Wand aus „Das Lied von der Erde“ findet erneut Verwendung. Bald gesellt sich das Corps de Ballet hinzu. „Dona Nobis Pacem“ erzählt keine lineare Handlung, zeigt vielmehr einen Reigen starker Bilder.

Und auch wenn John Neumeier die Uraufführung vor dem 24. Februar dieses Jahres geplant hatte, so steht sie doch unter dem deutlichen Eindruck des Ukraine-Krieges. Es kommen besonders viele junge Tänzerinnen und Tänzer zum Einsatz. Louis Musin ruht als Soldat erschöpft am Bühnenrand, Justine Cramer glänzt als Engel. Aber auch fast alle wunderbaren Tänzerinnen und Tänzer dieser einzigartigen Compagnie haben markante Auftritte. Anna Laudere tanzt als Witwe einen berührenden Pas de Deux mit Edvin Revazov in Offiziersuniform. Sie umkreisen einander in feinen Hebe- und Drehfiguren. Bis Revazov die Uniform ablegt und von einem Engel in ein fernes Reich abgeholt wird.

Tanz und Musik sind stärker als in anderen Choreografien verschränkt

Noch stärker als in anderen Produktionen ist die Choreografie hier mit der von Holger Speck geleiteten Musik verschränkt, feierlich und in gewohnter Qualität interpretiert vom famosen Ensemble Resonanz und beeindruckend gesungen vom Vocalensemble Rastatt sowie fünf Solistinnen und Solisten, unter denen vor allem der Tenor Julian Prégardien heraussticht. Die h-Moll-Messe gilt als wichtigstes Werk Johann Sebastian Bachs. Die handschriftliche Partitur dieses Meisterwerks zählt zum Unesco-Weltdokumentenerbe. Aber die auf- und abwogenden Klänge gelingen im ersten Teil „Missa (Kyrie und Gloria)“ am intensivsten.

Es gibt berührende Szenen, wenn sich unter die weiß gewandeten Engel wuchtig aufstampfende, über den Boden robbende, fallende Soldaten mischen – darunter auch Kinder. Dann wieder entwickeln sich Momente von leichtfüßiger Erhabenheit, etwa wenn ein von Madoka Sugai angeführtes Quartett aus jungen Frauen in schwingenden roten Kleidern mit wiegenden Schritten und hoch gestreckten Beinen um Martínez tanzt.

John Neumeiers erster Solist Alex Martínez tanzt mal allein, mal mit Ensemble

Großen Gruppentableaus stehen intime Szenen gegenüber, wenn etwa der elegante Alexandr Trusch als weiß gewandeter Geistlicher zu „Et in Spiritum sanctum“ zu den Witwen stößt. Der kraftvolle Christopher Evans wiederum findet als Geistlicher mit Xue Lin beim „Agnus Dei“ zum fast grafisch choreografierten Pas de Deux zusammen. Der junge Tänzer Alessandro Frola gibt als namenloser „Schatten“ ein Opfer der Atombombe in Hiroshima und tanzt, vergrößert auf eine Videoprojektion, buchstäblich um sein Leben.

Aleix Martínez wandert und tanzt mal allein, mal mit dem Ensemble durch diesen Abend. Er begegnet Engeln und Soldaten, umgreift bereits sein eigenes Totenhemd, wird wie eine Jesus-Figur getragen. Doch dann verstaut er das Hemd wieder im Koffer und bricht zu neuen Ufern auf. Das Leben ist für ihn noch nicht vorbei.

Hamburg Ballett: Olaf Scholz zeigt sich gerührt

Diese Kreation und das 50-jährige Jubiläum des Intendanten war auch Bundeskanzler Olaf Scholz einen Besuch in seiner alten Heimat wert. Hamburg habe Glück gehabt, dass sich John Neumeier vor einem halben Jahrhundert für die Hansestadt entschieden habe, so Scholz in einer Rede beim anschließenden Empfang der Stiftung zur Förderung der Hamburgischen Staatsoper. Am meisten berührt habe ihn die Szene, die an den Atombombenabwurf über Hiroshima erinnert. Selbst die Autokraten – auch der chinesische Staatspräsident Xi Jinping hätte sich dem angeschlossen – seien sich beim G20-Gipfel in Indonesien einig gewesen: „Diese Grenze darf nicht überschritten werden“, so Scholz. Man werde die Ukraine nicht im Stich lassen.

Zu gerne möchte man sich von diesen Worten beruhigen lassen. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine dürfte auch Hamburgs Bühnen weiter beschäftigen. „Dona Nobis Pacem“ ist – nur einen Tag nach Kirill Serebrennikovs „Der Wij“ am Thalia Theater – eine weitere kaum tröstliche, aber kraftvolle Auseinandersetzung mit dieser Realität, aus der es derzeit kein Entkommen gibt.

„Dona Nobis Pacem“ weitere Vorstellungen 7.12., 8.12., 9.12., 4.1., 5.1., jew. 19.30 Uhr, 2.7., 15 Uhr, Hamburgische Staatsoper, Dammtorstraße 28, Karten unter T. 35 68 68; www.hamburgballett.de