Hamburg. Klavier-Recital: Der Ausnahmepianist kam, spielte und überwältigte in der Laeiszhalle. Doch etwas trübte den sonst grandiosen Abend.

Dieses vorfreudig aufgeregte Grundrauschen-Gemurmel im Großen Saal, solange er noch beleuchtet ist und es jeden Moment beginnen könnte, schon das war speziell. Kommt er gleich? Was spielt er, was hat er beim letzten Mal gespielt, und wie hat er das nur gemacht? Dass jemand im Laeiszhallen-Parkett einen Stapel Klaviernoten zur Virtuosen-Kontrolle mitgebracht hatte, obwohl das Licht bei Sokolov-Recitals immer bis auf ein minimales Restfunzeln über der Bühne heruntergefahren wird, auch das war wohl typisch für dessen Fan-Gemeinde. Sokolov-Abende, den Vornamen Grigory braucht es längst nicht mehr, sind ganz unbedingt Pflichttermine für die Hamburger Klavier-Gourmet-Abteilung. Einmal im Jahr ist Bescherung am Brahms-Platz, weit vor Weihnachten.

Grigory Sokolov in der Laeiszhalle: Wenn nur dieser Huster nicht gewesen wäre

Ungetrübt blieb diese Freude am Montag letztlich nicht, weil es tatsächlich jemand schaffte, oder besser: wagte, ein allerheiligstes Kleinod dieser Begegnung zu zerhusten: Schumanns „Waldszenen“, ohnehin viel scheues Sinnieren, und erst recht die Episode „Abschied“, traf es. Das letzte der neun Charakterstücke, ein Schlussakkord-Wölkchen aus sanften Pastellfarben, mit dessen hauchzarter Ausdrucksstärke man bedeutende Klavierwettbewerbe gewinnen können sollte.

Doch ausgerechnet dieser letzte Klang, liebevoll von seinem Schöpfer aus dem eigenen Herzen gerissen, verklang nicht in seliger Stille, sondern wurde im letzten Moment gemeuchelt. Könnte das treu hingegebene Sokolov-Klavierabend-Publikum jemanden aus seiner Mitte wegen Gotteslästerung aus dem Konzertsaal exkommunizieren, hier wäre es garantiert passiert. Die Sokolov-üblichen sechs Zugaben gewährte er zwar dennoch, aber mit einem leicht erbitterten Nachgeschmack im gefühlten Abgang, der – klar, wie immer – von Standing Ovations begleitet wurde.

Sokolov durchaute die Musik wie mit Röntgenblick und nahm jede Note für voll

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Was man im Dreivierteldunkel des Saals nicht sah, aber zu Beginn dieses Recitals umso intensiver hörte, das war die kraftgeladene, harte, klare Sezierfreude, mit der Sokolov in die vier Duette BWV 802 bis 805 hineinpreschte. Sie wie mit Röntgenblick durchschaute und jede Note, sei sie im Zusammenhang auch noch so klein, für voll nahm. Wie er diese Rätsel auf engstem Raum neugierig auseinanderschraubte, indem er ihre kontrapunktischen Einzelteile zusammenfügte. Bach als stakkatoeske Feinmechanik für zehn Finger, für zwei Charakter-Hände, die absolut eigenständig und vor allem eigensinnig kontrapunktisch spielen. Vieles davon ist eigentlich kinderschwer, beim 74-jährigen Sokolov hat es einen Reifegrad der gespannten Gelassenheit erreicht, die nicht mehr beeindrucken soll, sondern nur noch erzählen will. Ganz große Kunst, der man dabei zuhören durfte, wie sie über sich selbst nachdenkt.

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Die c-Moll-Partita BWV 826 war bei Sokolov eine konsequente Weiterführung dieses Prinzips, denn den Verweis auf die barocken Tanzformen nahm Sokolov als Einladung, sie als hineinkomponierte Schwungräder dezent unterschwellig an- und mitklingen zu lassen. Die Duette waren vor allem waagerecht verlaufen; in die Partita-Sätze aber kam Tiefe als nächste Gestaltungsebene hinzu.

Ein kleiner Schritt nur, so gespielt, war es von dort zu den romantischen Chopin-Mazurkas op. 30 und op. 50 nach der Pause. Da lag kein Salonmusik-Parfüm mehr schwer auf dem Notenblatt, dafür war Sokolov diese Musik zu schade. Zwei Atemzüge vor, mindestens einen halben wieder zurück, die diskrete, schwer auszuhaltende Balance zwischen Drängen und Abwarten, Hoffen und Bangen, Zweifeln und Verzweifeln. Tausend Tränen tief, in noble Melancholie gerahmt. Muss man können, um sich nicht mit zu dick aufgetragener Gefühligkeit als Blender zu blamieren. Mitunter nahm Sokolov das Tempo weit heraus, verweilte lieber im Moment, legte viele Schattierungen auf das Grübeln und wurde immer sanftmütiger beim Raunen ohne Worte mit der Tastatur.

Zum Schluss wurde Grigory Sokolov zu einem Wanderer über dem Notenmeer

Die letzte Episode des Abends zeigte Sokolov beim Schumann als Wanderer über dem Notenmeer. Er meditierte sich eher beschaulich durch diese Kurz-Novellen aus Tönen, ging mit idyllischer Naivität durch den „Eintritt“ in diese Sammlung, pirschte dem „Jäger auf der Lauer“ durch Unterholz hinterher, erzählte von den „Einsamen Blumen“ eine kleine Gutenachtmusik und schaute fasziniert dem „Vogel als Prophet“ beim Zwitschern zu. Hintergründig und mindestens doppelbödig ist diese Musik, und bei Sokolov wurde sie zu einem Poesie-Album mit sehr eigenem Reiz.

Konzert: Am 7.8. spielt Grigory Sokolov dieses Programm beim Schleswig-Holstein Musik Festival in der Petruskirche Kiel. Karten evtl. per Warteliste. www.shmf.de