Hamburg. Star-Pianist Grigory Sokolov spielt in Hamburg Werke von Purcell bis Mozart. Seine Virtuosität blüht vor allem bei den Zugaben auf.
Stellen Sie sich vor, Sie gehen zu einem Sokolov-Klavierabend in ein mediterranes Pinienwäldchen. Die Luft rauscht, die Grillen zirpen… doch halt. Dies ist immer noch die Laeiszhalle. Und der Soundtrack stammt von diversen Hörgeräten, davon eines besonders scharf und insistierend. Da hilft nur eines: drüber weghören.
Grigory Sokolov ist eine Klasse für sich. Selten spürt man eine so innige Beziehung zwischen einem Künstler und seinen Verehrern. Und das, obwohl ersterer alles andere tut, als ein Bad in der Menge zu nehmen. Zwischen den Stücken aufzustehen kommt nicht infrage. Beifall gar? Wagen Sie es nicht, auch nur daran zu denken!
Grigory Sokolov in der Laeiszhalle – wären da nicht die vielen Hörgeräte
So spielt er die erste Hälfte des Konzertprogramms wie am Schnürchen durch. Das bietet sich durchaus an, denn es erklingt ausschließlich Musik von Henry Purcell. Der englische Komponist ist eher für Opern und opulente Chorwerke zu royalen Anlässen bekannt als für seine Tastenmusik.
In Sokolovs Auswahl, sie ist einer postum veröffentlichten Sammlung für Cembalo oder Spinett entnommen, zeigt er sich als lupenreiner Europäer. Purcell hat seine Heimatstadt London bis auf ein paar Dienstreisen nach Windsor nie verlassen, war aber kompositorisch auf der Höhe seiner Zeit.
Es erklingen ein irisches und ein schottisches Lied, eine Suite mit Tanzsätzen – das ist eine französische Erfindung – eine Chacone (die Gattung stammt aus Südeuropa) und auch eine von Purcells Lieblingsformen, ein sogenannter „Ground“ mit gleichbleibend schreitendem Bass.
An Sokolovs Virtuosität stellt diese Musik keine besonderen Anforderungen. Das Problem ist ein anderes: Die Musik ist eben nicht für einen Steinway geschrieben, und Sokolov hat nicht die Raffinesse, mit der Cembalisten Akkorde variieren, das Zeitmaß stauen, Mehrstimmigkeit herstellen.
Bei Chopin oder Rachmaninow spielt sich Grigory Sokolov in Fahrt
Die zweite Hälfte ist Mozart gewidmet. In der Sonate B-Dur KV 333 und dem Adagio h-Moll KV 540 gewinnt Sokolovs Spiel zunehmend an stilistischer Gestalt, besonders im düster-dramatischen Adagio.
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Seine Fans wissen es, fordern es, bejubeln es: Kein Sokolov-Abend ohne ein Feuerwerk an Zugaben. Er spielt sich in Fahrt, und es wird klar: Bei Chopin oder Rachmaninow hat er die Gestaltungsmittel voll in der Hand, traut sich was und lässt seine atemberaubend lockere Virtuosität blühen.
Irgendwann muss das Licht wieder angehen. Er absolviert noch ein paar seiner nüchternen Verbeugungen, dann hat es auch der Hartnäckigste begriffen: Das Konzert ist unwiderruflich vorbei.
Schade nur, dass das, was am längsten im Ohr bleibt, das Fiepen der Hörgeräte ist.