Hamburg. Unfassbar laut, unglaublich intensiv: Der Auftritt des US-Superstars in der ausverkauften Barclays Arena wird schwer zu übertreffen sein.
Wow. Sieben fette Gitarrenakkorde, gleißende Scheinwerfer-Schwenkbatterien. Und dann fährt sie aus dem Bühnenkeller hoch in die Barclays Arena, umrahmt von einer Band mit sieben Musikerinnen: Olivia Rodrigo. Sie singt in den Jubelorkan aus 12.000 Kehlen: „Bad Idea, right?“ Nein, eine sehr gute Idee ist das, am Dienstag wieder nach Hamburg zu kommen.
Schon als die kalifornische Sängerin und Schauspielerin im Sommer 2022 im Stadtpark auftrat, war sie zwar noch Newcomer, aber kein Geheimtipp mehr. Wie viele Superstars vor ihr, Britney Spears und Christina Aguilera zum Beispiel, begann die heute gerade 21 Jahre junge Künstlerin ihre Karriere als Teenager vor den Kameras des Disney-Universums in den Produktionen „Bizaardvark“ und „High School Musical: Das Musical: Die Serie“.
Olivia Rodrigo zeigt in Hamburg das Talent ihres Kindheitsidols Taylor Swift
Das erklärt aber kaum ihren durchschlagenden, über Nacht eingetretenen Erfolg als Popsängerin. Die Trennungsballade „Drivers License“ sorgte 2021 für diverse geknackte oder beinahe übertroffene Streamingrekorde, Millionen flirrende Augen vor TikTok-Handybildschirmen und einen mächtigen Schub für ihr Debütalbum „Sour“ vier Monate später. 13 Millionen umgerechnete Verkäufe für „Drivers License“, sieben Millionen für „Sour“, Chartsgipfel in den USA und Top Ten auch in Deutschland.
Ihr größtes Idol war in ihren Kinderjahren wenig überraschend Taylor Swift (mittlerweile fantasieren Fans beider Lager eine Fehde herbei, für die es absolut keine Belege gibt), und man muss schon nach den ersten Songs in der Barclays Arena zugeben, dass sie erstens das gleiche Talent besitzt, zweitens offensichtlich ebenfalls gern in ihren Liedern mit Ex-Freunden abrechnet – sich drittens aber musikalisch deutlich griffiger, kantiger und pointierter präsentiert. „Ballad Of A Homeschooled Girl“ ist direkter Riot-Grrrl-Punk zum Einstieg, es rockt ordentlich laut. Aber nicht laut genug. Doch dazu gleich.
Bei Olivia Rodrigo fließen im Saal Tränen wie aus lecken Kühlwasserschläuchen
„Vampire“, ihr großer Hit vom zweiten Album „Guts“ (2023) ist als dritter Song des Abends ein Paradebeispiel, dass man Pop nicht neu erfinden kann und doch immer noch Überraschungen möglich sind. Der Rhythmus setzt im Vergleich mit üblichen Popkompositionen an völlig unerwarteter Stelle ein, unterstreicht aber die ungeheure Emotionalität dieser brutalen Selbstreflektion einer toxischen, ausbeuterischen Beziehung. Diese Gefühle authentisch auf dem gefühlt 396. Konzert der Welttournee rüberzubringen ist schon große Kunst. Die 12.000 zumeist jungen, weiblichen Fans danken es ihr mit maximaler Hingabe. Doch auch dazu gleich.
Auch „Drivers License“ wird schon sehr früh im Set gegeben. Die Frage, wie man aus nur einem wiederholten Klavierton, der an die in Nordamerika üblichen Pieptonfolgen beim Start der Autofahrt erinnern soll, so einen mächtigen Song zaubern kann, ist nicht zu lösen. Aber hier fließen im Saal Tränen wie aus lecken Kühlwasserschläuchen, und auch wer nicht unglücklich verliebt ist, brüllt geradezu „but I still fuckin‘ love you!“
Olivia Rodrigo und Band werden von unfassbar lauten Fans übertönt
„Love Is Embarrassing“, singt Olivia Rodrigo, aber warum für Gefühle schämen? Die meisten im Publikum haben definitiv noch nicht so viele Abfuhren erfahren, sich um Kleinigkeiten gezankt, sich geghostet. Aber diese ersten Herzensbrüche sind die besonders schmerzhaften, die nie, nie, nie zu Ende gehen wollen. Erst nach drei, vier Tagen. Und denen gibt Rodrigo eine Stimme.
So und jetzt dazu: Und was für eine Stimme sie ihren Fans gibt. Der Autor dieser Zeilen hat in 23 Berufsjahren noch nie ein Konzert erlebt, bei dem jede einzelne Textzeile so unfassbar laut und 105 Minuten lang von der kompletten Arena mitgesungen wurde, nicht bei Dua Lipa, nicht bei Ariana Grande oder bei diversen Boygroups. Vielleicht seinerzeit bei Tokio Hotel.
Olivia und die teilweise wirklich in die Saiten dreschende Band werden nicht selten übertönt, und das Kreischen nach jedem Song, bei jedem Winken macht aus den Ohren nicht nur Kleinholz. Es holt noch Handfeger und Schaufel für die Reste. Wahnwitz, dieser „Teenage Dream“. Gott schütze Gehörschutz!
Olivia Rodrigo in Hamburg: Große Anwärterin auf das Konzert des Jahres
Dagegen verblassen nette Showdetails wie die große LED-Wand, Umziehpausen, acht Tänzerinnen, Bühnennebel, Laufstege, Hebeflächen und andere Ideen. Bei „Logical“ und „Enough For You” reist sie zum Mond: Ein Sternenhimmel sinkt von der Hallendecke, Rodrigo steigt auf einen Halbmond, schwebt bei den beiden Liedern in sechs Metern Höhe durch den kompletten Innenraum – und startet einen Wer-kreischt-lauter-Wettbewerb. Gnade! Und noch mal beim dramatischen, epischen „Déjà-vu “. Bitte mach das nicht!
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Das ist schon ein unfassbarer Abend. Das wäre er auch ohne das ganze Gedöns, mit Olivia Rodrigo auf einer Bierkiste, Bontempi-Keyboard spielend statt Flügel, Strom- und Akustikgitarre. Aber sie ist eben „So American“, da wird an nichts gespart. Die Lebensfreude in der Halle sollte man zum Mitnehmen einpacken dürfen. So intensiv. Die Ansagen sind ebenso charmant wie das Entgegennehmen von Fan-Geschenken, Lego-Mini-Olivias zum Beispiel.
Und nach der amtlichen Vollbedienung mit den Gitarrenbrettern „Brutal“, „Obsessed“ und „All American Bitch“ ist man wie erschlagen, während Olivia Rodrigo mit den Zugaben „Good 4 You“ und „Get Him Back!” den Rest aus den Stimmbändern holt. Es gibt ja Abendblatt-Kollegen, die jetzt schon Konzerte des Jahres küren. Na dann: Sagt alles ab! Da kommt nichts mehr.
Außer Taylor Swift. Vielleicht.