Hamburg. Hamburgs Kultursenator erklärt, warum die Stadt mehr Kreativität benötigt – und in welche Viertel er als junger Mensch heute ziehen würde.

Für Stadtentwickler war die Kultur früher meist nur die berühmte Kirsche auf der Torte. Hübsch anzusehen, aber nicht entscheidend für den Geschmack. Von zentraler Bedeutung waren der Raum zum Wohnen, Platz für Industrie und Gewerbe und funktionierende Verkehrswege, um Menschen von A nach B zu bringen. Oper, Kino, Museum, Galerie und Literaturhaus waren Verzierung, keine wichtige Zutat.

Spätestens seit dem Buch „The Rise of the Creative Class“ von Richard Florida hat sich der Blick auf die Stadtentwicklung geändert. Der Wirtschaftswissenschaftler stellte darin die These auf, dass nach dem Zeitalter der Industrialisierung eine Ära der Kreativität beginne. Demnach sollten Städte auf die Ideen der kreativen Klasse setzen.

Zwar sind manche Theorien heute widerlegt, doch der Grundgedanke Floridas hat das Denken bewegt – wie sonst wäre die Elbphilharmonie zum Wahrzeichen der HafenCity geworden? Im Ursprungsplan war an der Stelle ein Bürogebäude vorgesehen.

Brosda: „Moderne Stadtentwicklung zeigt, dass Kultur von Anfang an mitgedacht wird“

Kultur bewegt nicht nur Menschen, sondern ganze Städte. Carsten Brosda, Hamburger Kultursenator seit 2017, bewegt dieser Gedanke von Anfang an: „Moderne Stadtentwicklung zeigt, dass Kultur von Anfang an mitgedacht wird“, sagt er im Podcast „Was wird aus Hamburg?“. Gleich zwei Kulturprojekte, die mit der Stadtentwicklung eng verbunden sind, fallen in seinen Verantwortungsbereich: das geplante Haus der digitalen Welt und die neue Oper, die Klaus-Michael Kühne der Stadt schenken möchte.

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Im Wahlkampf 2020 hatte die SPD mit der Idee eines Hauses der digitalen Welt nach dem Modell des Oddo aus Helsinki überrascht. Damals war von einer „Elbphilharmonie der Digitalisierung“ die Rede. Heute klingt es bescheidener: Die Bücherhallen, die Volkshochschule, die Informatik der Universität und das Jugendinformationszentrum sollen das Haus gestalten. „Es ist gerade vieles in Bewegung, noch gibt es keine finale Entscheidung über den Standort. Deshalb mag das Gefühl entstehen, es ginge nicht weiter. Aber das ist falsch. Jetzt geht es um die Klärung der Standortfrage“, sagt der Sozialdemokrat.

Haus der digitalen Welt soll zu einem Hamburger Magneten werden

Klar sei, dass das Haus in die Innenstadt muss. „Ich hoffe, dass wir in diesem Jahr – und zwar nicht erst im Dezember – auf einem Stadtplan zeigen können, wo es entsteht“, sagt der Kultursenator. Ganz einfach ist die Standortsuche nicht: „Wir reden über ein Gebäude von mehr als 30.000 Quadratmetern.“ Zum Vergleich: Das frühere Karstadt-Sporthaus kommt auf rund 10.000 Quadratmeter, der geschlossene Kaufhof auf 37.000 Quadratmeter. Das Haus benötigt viel Platz – und schafft viel Raum für neue Ideen. Brosda hofft auf ein Zentrum, „in dem sich die Stadtgesellschaft trifft, zusammenarbeitet und hierfür alle Instrumente vorfindet oder dort gemeinsam entwickeln kann.“

Er nennt ein konkretes Beispiel: „Wenn wir uns fragen, was ChatGPT zu leisten vermag, wäre das Haus der digitalen Welt der ideale Ort für Antworten: Dort stehen nicht nur die Rechner, sondern dort trifft man auch die Leute, die Wissen vermitteln, dort kann man es ausprobieren“, sagt der Vater von zwei Töchtern. „Solche Orte fehlen uns.“

Carsten Brosda: Eine neue Oper wäre ein „Aufbruchssignal“

Nicht einfacher, aber ähnlich ambitioniert ist das Opernprojekt in der HafenCity. „Der Stand bei der Oper ist unverändert: Wir sprechen mit Herrn Kühne regelmäßig darüber, ob es ein Modell gibt, in dem er der Stadt eine Oper stiftet“, sagt Brosda. „Kulturorte neu zu schaffen ist für eine Stadt immer ein Aufbruchssignal. Aber wir sind noch nicht an einem Punkt, an dem wir wissen, ob es gelingt.“

Brosda bestätigt, dass es bereits eine gemeinsame Reise mit Kühne und seiner Stiftung nach Nordeuropa gab, um sich anzuschauen, wie ein solches Projekt aussehen könnte. Mit dem Baakenhöft gibt es sogar einen möglichen Bauplatz in der HafenCity. „Die Frage ist, ob wir ein Modell finden, das für Herrn Kühne wie für die Stadt plausibel ist.“ Am Ende geht es auch um die Investitionssumme. Im Abendblatt hatte Klaus-Michael Kühne eine Summe von 300 Millionen Euro in Aussicht gestellt.

Kommt die Kühne-Oper? „Noch ist nichts entschieden“

Der Senator verweist darauf, dass genau feststehen muss, was ein Opernhaus dieser Größenordnung am konkreten Ort kostet. „Dann bekommt das Projekt ein Preisschild, und der Mäzen muss entscheiden, ob er bereit ist, diese Summe zu tragen. Noch ist nichts entschieden.“ Im Gespräch betont der 49-Jährige, dass ihn die Chance fasziniert, ein Opernhaus des 21. Jahrhunderts zu errichten. „Ein Kultursenator, der sagt, ich will keine neuen Kulturorte, wäre schlecht beraten.“

Den Betrieb eines zweiten Opernhauses indes hält Brosda für unrealistisch. Scheitern die kühnen Pläne, müsste die Stadt in das bestehende Gebäude investieren. „Dann müssen wir uns intensiv darum kümmern, das jetzige Opernhaus auf Vordermann zu bringen. Das wird nicht trivial, weil die Staatsoper mittlerweile in einigen technischen Bereichen ans Ende ihres Lebenszyklus gekommen ist.“

Brosda sieht große Chancen für die Kreativwirtschaft in Hamburg

Brosda stand auch im Mittelpunkt einer Debatte, die im vergangenen Jahrzehnt viele in der Stadt bewegte: die um den Abriss des Cityhofs. Der Senator, in dessen Behörde der Denkmalschutz angesiedelt ist, hatte die Abrissgenehmigung stets verteidigt. „Ganz ehrlich, ich wäre für den Erhalt der Hochhäuser gewesen. Doch in dem Moment, in dem die politische Entscheidung gefallen ist, sollte diese von Regierungsmitgliedern auch durchgesetzt werden.“

Carsten Brosda ist seit 2017 Kultursenator. Olaf Scholz holte seinen alten Mitarbeiter 2011 nach Hamburg.
Carsten Brosda ist seit 2017 Kultursenator. Olaf Scholz holte seinen alten Mitarbeiter 2011 nach Hamburg. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Er habe die Entscheidung damals geerbt. „Falsch war aber die Behauptung, der Abriss der Cityhof-Hochhäuser beschädige den Welterbestatus des Kontorhausviertels. Das war vorgeschoben.“ Dem Neubau des Johann-Kontors kann er durchaus etwas abgewinnen. Die Schaffung von Wohnraum sei Maßgabe gewesen, das gelinge nun.

Für Brosda hängen Kultur, Stadtentwicklung und Kreativwirtschaft eng zusammen. „Wenn wir über Innovation reden, dann ist es klug, die Potenziale der Kreativwirtschaft in den Blick zu nehmen. Hier geht es nicht bloß um putzige Projekte von Soloselbstständigen, sondern um echte wirtschaftliche Wertschöpfung. Hamburg hat hier große Chancen.“

Brosda sieht in Hamburg viel kreatives Potenzial

Ihm geht es dabei um etwas Grundsätzliches: „Wir müssen uns die Fähigkeit bewahren, Dinge neu zu denken. Nur weil wir zehn Schritte in die eine Richtung gegangen sind, müssen wir nicht zwangsläufig in die Richtung weiterlaufen. Es geht darum, einen anderen Blick in eine Zukunft zu wagen, andere Möglichkeiten auszuprobieren.“ Das sei etwas, was Künstler und Kreative besonders gut beherrschen. „Dieses Denken benötigen gerade große Städte, die Olaf Scholz mal so schön als Laboratorien der Moderne bezeichnet hat.“

Metropolen seien Trendsetter für eine Gesellschaft, Hamburg bringe enormes Potenzial mit. „Hamburg ist neben der Hafenstadt längst auch eine vielfältige Kreativstadt. Wenn wir dieses Potenzial nutzen wollen, müssen wir die Branche weiter stärken“, betont der frühere Journalist Brosda.

Warum disruptives Denken Hamburg in der Vergangenheit genützt hat

In der Geschichte der Stadt mit ihrem merkantilen Denken gab es viele Momente, in denen Hamburger disruptiv gedacht haben – etwa bei der Entscheidung für einen offenen Tidehafen oder den Containerhafen. „Das haben nur wenige Häfen in dieser Konsequenz gewagt – die anderen sind verschwunden.” Brosda, der einst als Vizechef des Leitungs- und Planungsstabes im Bundesarbeitsministerium unter Olaf Scholz wirkte, führt noch weitere Beispiele an wie die Ansiedlung von Airbus oder den Mut von Bürgermeister Henning Voscherau, die HafenCity zu bauen.

Disruptiv, also zerstörerisch, sei auch der Bau der Speicherstadt gewesen – für die ganze Wohnviertel abgerissen wurden. „Der berühmte Satz von Alfred Lichtwark über die Freie und Abrissstadt Hamburg bezieht sich darauf. Heute ist die Speicherstadt Weltkulturerbe. Manchmal wird so ein disruptives Wirken erst 100 Jahre später in seiner Bedeutung erkannt.“

Kultursenator über das Geheimnis erfolgreicher Städte

Der Kultursenator mit dem Blick auf das Wirtschaftliche sieht die Stadt gut aufgestellt. „Hamburg hat eine sehr starke Kreativwirtschaft mit fast 100.000 Arbeitsplätzen“, lobt Brosda und verweist beispielsweise auf die Leitmesse OMR. Manchmal aber hapere es an der Zusammenarbeit der Kreativwirtschaft mit der alten Industrie. Und manchmal steht die Stadt sich auch selbst im Weg.

Ole von Beust hatte im Podcast betont: „Eine Stadt braucht Freiräume für Menschen, die mit dem bürgerlichen Leben nichts zu tun haben, wo es billig ist, manchmal auch ein bisschen schmutzig. Dort bekommt eine Stadt den Input, um beweglich und flexibel zu bleiben. Berlin hat nach wie vor solche Stellen. Hamburg nicht.“

Brosda stimmt dem früheren CDU-Bürgermeister über die Parteigrenzen hinweg zu und zitiert den alten Satz des Kunstkritikers Karl Scheffler: „‚Berlin ist dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein.‘ Das ist eine sehr schöne Beschreibung für moderne Städte. Man sollte versuchen, diesen Zustand zu erreichen“, so Brosda, der 2007 mit einer Arbeit zum Thema „Diskursiver Journalismus“ an der Universität Dortmund promoviert wurde.

Brosda: Hamburg braucht mehr Freiräume für kreatives Denken

„Hamburg ist in großen Teilen sehr fertig, sehr ordentlich, sehr klar in seinen Prozessen. Prinzipiell ist das großartig, weil die Stadt funktioniert. Zugleich muss man sich für Freiräume, an denen ein anderes Denken möglich ist, bewusst entscheiden.“ Aufgrund seines wirtschaftlichen Erfolges habe Hamburg davon wenige. Die Kreativgesellschaft steuere aber diese Prozesse, etwa am Oberhafenquartier, dem Hochwasserbassin in Hammerbrook oder künftig auch am Kaltenkirchener Platz beziehungsweise perspektivisch am Diebsteich.

In diesem Zusammenhang lobt Brosda auch das Programm Frei_fläche, das seit über zwei Jahren künstlerische und kreative Zwischennutzungen in leer stehenden Geschäften ermöglicht. Mit Karstadt Sport wurde sogar ein Kaufhaus zum „Jupiter“ transformiert. „So bringt man auch die Immobilienbesitzer auf neue Ideen.“

Warum Gentrifizierung nicht nur Problem, sondern auch Lösung sein kann

Brosda wirbt für den permanenten Umbruch: Die Stadt habe immer vom Wandel gelebt, aus dem Arbeiter- und Industrieviertel Ottensen wurde so ein Szeneviertel. Die Gentrifizierungsdebatte um Chancen und Gefahren der Aufwertung sieht er differenziert. „Ein sehr linker Stadtsoziologe hat mal gesagt, es gebe nur eine Sache, die noch beknackter ist als Gentrifizierung, und das ist keine Gentrifizierung. Denn dann ist eine Stadt am Ende tot.“ Es gehe vielmehr um die Gestaltung der Aufwertung und das Maß. „Wir müssen aufpassen, dass in den Stadtteilen wie etwa Ottensen nicht das Arbeiten komplett wegfällt und die Mieten in Dimensionen steigen, die es auch den Pionieren der Stadtentwicklung schwer macht, dort zu bleiben.“

Für andere Viertel sei Aufwertung hingegen ein Versprechen. „Da geht es um Potenziale etwa in Hammerbrook oder dem Osten der Stadt.“ Auf diesen Flächen könnten gemischte Quartiere entstehen und Wohnen, Arbeiten, Freizeit in einem Raum verdichtet werden. „Menschen, die heute in Städten wohnen, haben es gerne bunt, nah beieinander, sie finden die Reibungen spannend, die entstehen.“

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Käme Brosda heute als junger Mann nach Hamburg, würde es ihn nach Hammerbrook und Rothenburgsort ziehen. „Das sind Stadtteile, denen in den kommenden Jahren eine spannende Entwicklung bevorsteht.“ Auch in Wilhelmsburg entstünden derzeit lebendige Szenen. „Ich mag Viertel, die in Bewegung, die nicht fertig sind.“ Hammerbrook verfüge über faszinierende Wasserlagen, die es zu entdecken gilt. Mit dem Spieleentwickler Innogames habe sich bereits ein Pionierunternehmen dort angesiedelt. „Es wäre sehr gut für Hamburg, wenn sich hier ein Ökosystem der Branche entwickeln würde.“

In fast allen westeuropäischen Metropolen seien die östlichen Stadtteile lange vernachlässigt worden, angeblich, weil der Wind meist von Westen weht und die Industrie dementsprechend in den Osten musste. Hier liegen heute die Chancenräume. Brosda kritisiert, dass der Zug nach Osten noch nicht ausreicht: „Wenn ich mit Unternehmen darüber rede, sich dort anzusiedeln, ist die Bereitschaft meist unterentwickelt – da wollen alle in die Schanze und nach St. Pauli. Aber die Stadt endet nicht am Hauptbahnhof, dahinter kommt noch eine ganze Menge spannende Stadt.“

Fünf Fragen an Carsten Brosda

Meine Lieblingsstadt … ist Hamburg. Ich fühle mich auch an neuen Orten rasch heimisch. Ich muss mir nur ein Umfeld schaffen, in dem ich mich wohlfühle. So bin ich nicht getrieben vom Gefühl, woanders hinzumüssen. Wäre ich jetzt noch in meiner Geburtsstadt Gelsenkirchen, hätte ich vermutlich Gelsenkirchen geantwortet. Und in meiner Berliner Zeit Berlin gesagt. Ich wohne seit vielen Jahren sehr gerne in Hamburg, hier fühle ich mich rundum wohl, hier leben viele Menschen, die ich mag, und die Stadt hat enormes Potenzial. Wichtiger als der Ort sind die Menschen, die den Ort machen.

Mein Lieblingsstadtteil … ist einer, wo ich aufs Wasser gucken kann. Und da am liebsten auf die Elbe.

Mein Lieblingsgebäude … ist die Elbphilharmonie, ein grandioser Bau. Ich entdecke dort immer noch neue Ecken, die mich architektonisch begeistern.

Mein Lieblingsort … ist der Elbstrand in Blankenese, wenn man aus dem Treppenviertel ans Wasser gelangt. Als wir das erste Mal dort hinunterliefen, fuhr im selben Moment ein Containerschiff vorbei – und meine kleine Tochter sagte damals: „Papa, guck mal, da fährt ein Haus.“ Diese Kontraste wie der Riesenkahn in der Idylle von Blankenese liebe ich an Hamburg.

Einmal mit der Abrissbirne … habe ich gerade keines vor Augen. Selbst wenn es eins gäbe, das nicht unter Denkmalschutz steht, ist es immer spannender, aus Altem etwas Neues zu machen.