Hamburg. Tulga Beyerle, Direktorin des Museums für Kunst und Gewerbe, steht dem Ausbau des Hauptbahnhofs und der Mönckebergstraße kritisch gegenüber.
Es ist nur wenige Tage her, da löste ihre Kritik an den Plänen zum Ausbau des Hauptbahnhofs ein großes Echo in der Stadt aus: „Sollte der Umbau so kommen, wird von diesem Bau nicht mehr viel zu erkennen sein“, warnte Tulga Beyerle im Abendblatt. Die Direktorin des Museums für Kunst und Gewerbe blickt jeden Tag aus ihrem Büro auf den prächtigen Bahnhof, den die Architekten Heinrich Reinhardt und Georg Süßenguth 1900 entwarfen. Die neue gläserne Halle, so fürchtet die Designerin, werde den Blick komplett verstellen. „So verbaut sich Hamburg seine Zukunft.“
Sie bekennt sich klar zum Ziel des Ausbaus für die Mobilitätswende, hinterfragt aber das Wie. „Ich betrachte die Planungen als sehr vorgestrig. Ich glaube, dass wir die Stadt der Zukunft offener planen sollten, weil wir heute nicht genau wissen, wie wir uns weiterentwickeln müssen.“ Klar sei, dass es mehr Orte mit Aufenthaltsqualität geben müsse: „Wir müssen entsiegeln, wir müssen Schatten schaffen, wir müssen Grün in die Stadt holen. Wir müssen die echte Lebensqualität voranbringen. Wir brauchen durchmischte Städte.“
Museumsdirektorin ist entsetzt über den Zustand der Mönckebergstraße
Ein großer, gewerblich genutzter Ausbau des wunderschönen Hauptbahnhofs möge wirtschaftlich sinnvoll sein, sei aber unter gesellschaftlichen Aspekten nicht mehr zeitgemäß. „Ich arbeite an der Grenze zur Innenstadt. Und ich sehe mit Entsetzen, wie die Mönckebergstraße im Laufe der letzten Monate wirklich herunterkommen ist. Da sind zusätzliche Einkaufsmöglichkeiten und Gewerbeflächen am Bahnhof das Letzte, was die Mö benötigt.“
Ihre Kritik ist mehr als ein persönliches Statement, die Designerin treibt ein ästhetisches Unbehagen. Als Wienerin, die seit 2018 das Haus am Steintorplatz leitet, wagt sie einen unverstellten Blick auf die Stärken ihrer Wahlheimat Hamburg – und ihre Schwächen. „Was mir gleich aufgefallen ist, ist, dass die Stadt keine attraktiven Plätze hat. Sie kann ihre Freiflächen nicht gestalten.“
Gibt es keine Flaneure in Hamburg?
Hamburg fehle das Gen des Flaneurs und Faulenzers, die Lust auf das Verweilen: „Wann sind Sie das letzte Mal durch die Altstadt flaniert? Wann haben Sie sich auf einem Platz auf eine Bank unter Bäumen gesetzt mit einem Kaffee und die Menschen beobachtet? So, wie man es in Paris, Rom oder Wien jederzeit tun würde?“ Die Frage ist rhetorisch. Beyerles Antwort lautet: „Es fehlt jede Einladung, sich in dieser Stadt niederzulassen. Es ist so herrlich in Wien, einen Moment zu haben, wo man einfach auf einem schönen Platz sitzt und nur blöd in die Luft schaut.“
Sie sei bei einer Präsentation der Behörde für Stadtentwicklung zum Burchardplatz gewesen. „Dort sah man dann auf Bildern eine perfekte Pflasterung und drei Bäumchen. Mehr war da nicht.“ Die Kritik, wo die Aufenthaltsqualität bleibe, konterte die Behörde mit dem Weltkulturerbe des Kontorhausviertels. „Das ist für das Auto gebaut worden, und deswegen muss es so erhalten bleiben. Ich war fassungslos.“ Tulga Beyerle sieht darin die Tradition der Hansestadt durchschimmern: „Hamburg ist eine Kaufmannsstadt. Die Menschen arbeiten hart und wissen, was Leistung heißt. Das finde ich auch gut. Ich arbeite lieber in Hamburg als in Wien. Aber etwas mehr Müßiggang würde manchmal nicht schaden.“
Hamburg habe viele Ähnlichkeiten mit Wien
Dabei sieht die Österreicherin mit deutschem Pass viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden gleich großen Metropolen. „Hamburg hatte mit Fritz Schumacher einen herausragenden Stadtplaner, der ähnlich wie Wien die wichtigen Weichen gestellt und die Stadt ganz wesentlich geprägt hat. Heute vermisse ich diese Vision, wo Hamburg hinwill.“ Dabei könne man von der österreichischen Hauptstadt lernen. „In Wien fördert die Stadt, dass kleine Unternehmen, Architekturbüros oder Modelabels in leer stehende Läden einziehen, um ganze Straßenzüge umzudrehen. Das ist ihnen bei einigen Straßen sehr gut gelungen.“ Das ähnlich gestrickte Hamburger Programm Frei_Fläche geht in diese Richtung, ist aber sehr kurzfristig angelegt. „Die Leerstände an der Mönckebergstraße bergen Potenziale, man muss nur mit den richtigen Leuten daran arbeiten.“
Vorbildlich hingegen findet Beyerle das Genossenschaftsprojekt Gröninger Hof, bei dem sich im Katharinenviertel ein Parkhaus in ein Wohn- und Geschäftshaus verwandelt. „Die Idee ist, die Mieten minimal zu erhöhen, um so die Erdgeschossflächen zu subventionieren, damit ein kleiner Schuster oder eine Töpferin einziehen kann.“ Für die Innenstadt wünscht sich Beyerle ein Bauforum, wie es die Stadt 2019 zur Gestaltung der Magistralen veranstaltet hat. „Wir brauchen neue Ideen und gute Architektur. Ein Architekt kann solche Gebäude umdenken.“
Haus der Digitalen Welt ei Hoffnungsträger der City
Ein Hoffnungsträger für die City ist das Haus der Digitalen Welt, eine „Elbphilharmonie der Digitalisierung“, wie Kultursenator Carsten Brosda sie nennt und das sich am Erfolgsmodell Oodi in Helsinki orientieren soll. „Ich persönlich hätte das Haus der Digitalen Welt am liebsten in meiner Nachbarschaft am Hühnerposten. Das würde unser analoges Angebot perfekt ergänzen.“
Ihr Museum am Steintorplatz sei Teil der Innenstadt, auch wenn diese für viele Hamburger irrtümlich schon am Wallring ende. „Für mich ist eine zentrale Herausforderung, Gründe zu schaffen, in die Innenstadt zu fahren. Warum gibt es keine Kinderspielplätze? Wo sind die Bäume? Die Menschen brauchen ein Angebot, um zu bleiben.“ Und noch drei Dinge fehlen der City: „Wohnen. Wohnen. Wohnen.“
Der Kultur komme eine zentrale Rolle zu, Hamburgs Wohnzimmer wieder mit Leben zu füllen: Die Kunstmeile kann und soll ein noch größere Magnet werden – mit dem Bucerius Kunst Forum, den Deichtorhallen, der Kunsthalle, dem Kunstverein und dem MKG bietet die Stadt gleich fünf starke Häuser im Zentrum. „Wir wollen übergreifend die Themen Stadt und Nachhaltigkeit im öffentlichen Raum sichtbar machen“, sagt die 58-Jährige. Ihr Traum ist es, den Wallring zu beleben. „Das müsste eigentlich eine grüne Meile werden, so wie der Ring in Wien eine riesige Flaniermeile ist, obwohl dort Autos fahren. Dort stehen rechts und links alleeartig Bäume.“ Aber Autos in Deutschland seien kein einfaches Thema, seufzt sie.
Tulga Beyerle hat ein ganz besonderes Lielbingsthema
Ihr Museum für Kunst und Gewerbe versteht Beyerle als Akteur der Stadtgesellschaft, als Ort des Austausches und der Diskussion. Ihre Leitfragen lauten: „Wie gestalten wir unsere Welt? Wie können wir gemeinsam Gestaltung weiterbringen?“ Die Themen des Museums haben also viel mit Stadt und Stadtplanung zu tun. Im Haus selbst hat Beyerle 2020 den Freiraum als offenen Treffpunkt etabliert: „Das ist ein konstanter Ort des Aufenthalts, der Pause, des gemeinsamen Tuns, des Diskutierens, aber auch des Rückzugs. Da kommen unterschiedlichste Protagonisten und Communitys der Stadt zusammen.“
Mit diesem Anspruch mischt sich Beyerle, die Gestaltung als ihr Lebensthema versteht, in die Debatten ein: „Man kann unsere Arbeit nicht ohne unser Umfeld denken. Und wir müssen dieses Umfeld mitgestalten dürfen.“ In den vergangenen Jahren ist das nicht eben einfacher geworden: Der Hauptbahnhof platzt aus allen Nähten, die wachsende Drogenszene der Stadt konzentriert sich am Drob Inn. Die Neugestaltung des Platzes bei der Drogeneinrichtung habe zwar manche Verbesserung gebracht, sagt Beyerle, aber nicht die Qualität, die der Stadt und Innenstadt entspricht. „Auch diese Menschen haben eine Würde und dürfen nicht die Minimalgestaltung eines Gefängnishofes bekommen.“ Es sei zu wenig, nur darüber nachzudenken, wie man den Platz am besten reinigen und wie man mit aggressiver Architektur verhindern kann, dass sich jemand hinsetzt. „Dann bleiben nur die Menschen über, die so kaputt sind, dass es ihnen egal ist, wo sie niedersinken.“
Hamburger Hauptbahnhof sollte Erlebnisort werden
Deshalb ist ihr auch die Gestaltung dieses Umfelds und des Hauptbahnhofs so wichtig: „Es geht hier um gute Landschaftsarchitektur, um eine hohe Aufenthaltsqualität, es geht um Schatten und Kühle.“ Hinter dem Dammtor sei das gelungen. „Die Stadt kann es also doch. Der Umbau würde uns idealerweise einen breiteren Balkon auf der Seite zu den Gleisen geben und damit mehr Möglichkeiten des Flanierens und des Überbrückens dieser Lochs.“
Beyerle, das Kind einer Wiener Künstlerfamilie, verweist auf alte Fotos, die diese Großzügigkeit des Bahnhofs zeigen. Es müsse gelingen, den Bau in alle Richtungen zu öffnen – dann könnten die Menschen frei fließend erleben, was der Bahnhof kann und welche Angebote das Umfeld bietet. „Die Menschen sollen ankommen, rausgehen und die Stadt erleben: Alles ist so nah, die Innenstadt, die Museen, hier ist St. Georg, dort die Elbe, da die Alster. Toller kann’s gar nicht sein, als in Hamburg anzukommen.“ Um die Überlastung der Wege und Bahnsteige zu entzerren, müssten weitere Aufgänge und Abgänge geschaffen werden. Diese Aufgaben gelte es zu lösen. „In Zeiten des Klimawandels, der Stadtveränderung, der Mobilitätswende muss sich der Ausbau auf verkehrliche Fragen konzentrieren und nicht um die maximale Verwertung des Raumes.“
Beyerle sieht viele Stärken in Hamburg
Beyerle aber sieht nicht nur die Schwächen, sondern auch die Stärken der Stadt. Hamburg biete enorme Potenziale, etwa auf dem Kleinen Grasbrook oder in Hammerbrook. „Die Stadt wächst auf eine interessante Weise, und sie wächst architektonisch interessant. Die HafenCity ist für mich ist ein lebendig gewordenes Rendering. Manchmal ist es etwas windig dort, aber schon sehr schön. Ich vermisse im Moment – und das wird am Hauptbahnhof so deutlich – eine gemeinsame Stadtplanung. Man hat das Gefühl, da plant jemand anderes Hamburg für uns.“
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Und dann beginnt sie doch, von Hamburg zu schwärmen: Mit Wiener Freunden zieht es sie an den Elbstrand: „Wir haben ein magisches Picknick an der Strandperle bei Sonnenuntergang gemacht. Wenn der Hafen auf der anderen Elbseite zu leuchten beginnt, spürt man, was diese Stadt ausmacht. Hamburg ist unglaublich schön: die luxuriösesten Villen, die mit Freude auf ihren eigenen Hafen schauen, Harvestehude, Rotherbaum, die Isestraße und dann auf der anderen Seite die Arbeiterstadt mit ihrer Härte. Diese Diskrepanz macht Hamburg sehr, sehr spannend.“
Ausdrücklich lobt die Mutter eines 30-jährigen Sohnes den Ehrgeiz der Stadt, klimaneutral zu werden. „Ich treffe tolle Leute, die sich engagiert dafür einsetzen, dass es weitergeht. Ich glaube sehr an diese Stadt, weil sie ein starkes, engagiertes, auch aktivistisches, mitunter anarchistisches linkes und lebendiges Bürgertum hat. Es ist keine Stadt, die sich nur selbst genügt, auch wenn mir manches zu langsam geht. Aber da ist Wien sicher nicht das Vorbild!“ Gerade in angespannten Zeiten, in der Fliehkräfte in der Gesellschaft wachsen, müsse das Ziel lauten, „eine wirklich menschliche und lebensbejahende, inklusive Stadt zu schaffen“.
Dazu wollen sie und das Museum für Kunst und Gewerbe beitragen