Hamburg. NDR-Chefdirigent Alan Gilbert kombinierte in Elbphilharmonie-Konzert Schönbergs „Überlebender aus Warschau“ und Beethovens Neunte.

„In einer Minute will ich wissen, wie viele ich zur Gaskammer abliefere! Abzählen!“, brüllte Dominique Horwitz roh über die schmerzverzerrte, zwölftönige Musik hinweg in den Großen Saal der Elbphilharmonie, bevor später ein Chor, in himmlisch schöne Bilderbuch-Harmonien gefasst, die heilende Wirkung eines wohlmeinenden Götterfunkens besang: „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.“

Arnold Schönberg, vor den Nazis in die USA geflüchtet, vertonte 1947 in seinem ebenso kurzen wie eindringlichen Melodram „A Survivor From Warsaw“ Augenzeugenberichte aus dem Warschauer Getto. Beethoven ließ in seiner Neunten, die fast auf den Tag genau vor 200 Jahren uraufgeführt worden war, mit Schillers Worten in epochaler Größe die humanistische Vision einer besseren Welt feiern. In jener Sinfonie, die ein Wilhelm Furtwängler 1942 zum Geburtstag des Führers dirigieren sollte; im selben Jahr, in dem Häftlinge im KZ Buchenwald den Schreibtisch Schillers, an dem er wohl seine Ode „An die Freude“ vollendet hatte, nachbauen mussten, während das Original aus Furcht vor alliierten Bomben versteckt wurde. Mit jenem Schlusschor, den man drei Jahrzehnte später zur Europahymne adelte.

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All das und noch viel mehr an konkreter Bedeutung, historischer Vielschichtigkeit und symbolhafter Reibung klang mit in dem Musikfest-Konzert, für das NDR-Chefdirigent Alan Gilbert mit seinem Orchester die beiden Schlüsselwerke der zwei Wiener Klassiker Schönberg und Beethoven zusammenbrachte. In diesem anstrengenden Spannungsfeld sollten sie frontal aufeinander wirken und sich noch verstärken.

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Nicht wenige dürften eher einzig wegen des „schönen“ und „erhabenen“ Beethovens gekommen sein, alle mussten sich knapp zehn Minuten lang der erschütternden Unmittelbarkeit dieses Schönbergs aussetzen, und erst recht seinem Nachklang im Folgenden. Gilbert dirigierte diese traumatische Musik mit der notwendigen Härte, aber auch mit großer Empathie für ihre Botschaft. Durch den unvermittelten Auftritt eines Männerchors (Mitglieder des Berliner Rundfunkchors) in die Parkett-Sitzreihen hinein wurde das Thema auch physisch noch näher in die Gegenwart und zum Publikum gebracht. Sie standen dort und sangen, in heutiger Alltagskleidung, und bekannten sich mit dem „Schma Jisrael“ zu diesem Glauben, auch zu dieser Verzweiflung, vor allem aber zu einer Hoffnung.

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In diesem Kontext, über einen kurzen Applaus-Moment hinweg, einen Auftakt zu geben zu einer Sinfonie, die mit einer leeren Quinte beginnt, bei der alle thematischen Entwicklungswege kurz offenstehen, ist eine noch größere Herausforderung als ohnehin schon. Gilberts Blick und sein Zugriff auf Beethoven erwiesen sich im Laufe dieses Abends als vor allem energisch zupackend.
Manches im Kopfsatz wirkte deswegen in der Ausgestaltung unausgereift, wie noch getrieben und aus der inneren Balance gebracht vom Vorangegangenen. Klar geregelt, das schon, aber nicht bohrend intensiv. Nur weiter, nur schnell weiter weg von der noch so nahen Erfahrung des „Überlebenden“? Auch die straffe Knackigkeit im Scherzo des zweiten Satzes kam so mitunter ins unscharfe Irgendwie.

Erst im dritten Satz, im vorfreudigen Idyll, dem vorahnenden Kontrast zum Jubelfinale, fand das Orchester mit einigen schön ausgespielten Bläsersoli zur sicherer tragenden Ruhe. Der Schlusssatz mitsamt seinem soliden Solistenquartett war, was er so oft ist und ja auch zu sein hat: eine große Feier des Wahren, Schönen, Guten, die ohne jeden Zweifel am guten Ende ins danach jubelnde Rund geschmettert wurde.

Buch: Jeremy Eichler „Das Echo der Zeit. Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege“ (übersetzt von Dieter Fuchs, Klett-Cotta, 464 S., 32 Euro). Das Konzert ist als Video in der Elbphilharmonie-Mediathek abrufbar. Weitere Musikfest-Konzerte: www.elbphilharmonie.de.