Hamburg. Musikfest-Beginn in der Elbphilharmonie: Das NDR-Orchester, Alan Gilbert und Thomas Hampson mit Musik von Barber, Ives und Schönberg.
Könnte man die Gedanken, Töne und Beweggründe dieses einen Abends auswringen, um aus den Eröffnungsreden und dem Auftaktprogramm des diesjährigen Musikfests Anregungen für Debatten und Konzerte zu gewinnen – es käme eine große Menge an stärkstem Diskurs-Konzentrat zusammen. „Krieg und Frieden“ ist das Motto der nächsten Festival-Wochen in der Elbphilharmonie, bereits vor Jahren in der Dramaturgie als nie verkehrtes Überthema zurechtgelegt. Doch gerade, zu lange schon und ohne nahes Ende in Sicht, ist dieses Gegensatz-Paar so brennend aktuell, dass es unweigerlich schmerzt und weiterbohrt.
Vor den ersten Tönen im Großen Saal wurde es beim Festakt im Kleinen Saal vor den geladenen Ehrengästen systemtheoretisch. Kultursenator Carsten Brosda überlegte redend, gewohnt versiert, von der frischen Textzeile „Böse Menschen haben eben doch Arien“ der Hamburger Befindlichkeits-Band Kettcar zur Anti-Kriegs-Lyrik von Bob Dylan und würzte mit Gedanken zu der 1992 ausgerufenen Theorie des Historikers Francis Fukuyama über „Das Ende der Geschichte“ nach. Nur noch Friede, Freude und die liberale Demokratie weltweit unanfechtbar ganz oben auf dem Siegertreppchen? Von wegen. Ukraine, Gaza. So viel mehr. Aber eben auch, als Brosdas Gegenmittel: „Kunst erzeugt ein Bild oder einen Klang des Möglichen.“
Elbphilharmonie: Krieg und Frieden und Asynchronschwimmen im Klang
Brosdas Leitmotiv, das der unbedingt beizubehaltenden Zuversicht, griff der Historiker Philipp Blom in seinem Vortrag und erhöhte den Einsatz auf die Bedeutung der „Hoffnung in der Polykrise“. „Über Hoffnung zu sprechen scheint mir notwendiger denn je“, begann er, „ich verstehe sie als einen Akt der Rebellion.“ In der Nachkriegszeit hätte es hierzulande zwei Generationen lang Ferien von der Geschichte gegeben, so Blom in seiner unmilden Analyse des Jetztzustands, aber „die Geschichte geht mit voller Macht weiter“. Bloms finale Forderung: „Pessimismus der Intelligenz, Optimismus des Willens“.
Derart großgedanklich vorbearbeitet, begann der Abend mit einer der pathetischen, schwer beladenen Trauermusiken des letzten Jahrhunderts: Barbers „Adagio for Strings“, das ursprünglich nicht für solche Anlässe komponiert wurde, inzwischen gängig ist bei großen Tragödien, als Soundtrack zum kollektiven Innehalten und Mutbehalten. Alan Gilbert und das NDR Elbphilharmonie setzten damit einen ersten Akzent, der auch einige tröstend aufhellende Momente hatte.
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Als Mahler-Interpret ist der Bariton Thomas Hampson seit langer Zeit ein Textdurchdringer und Feinsinger. Als Botschafter der Kulturtradition seiner Heimat USA war er für die Auswahl raffiniert orchestrierter Lieder seines Landsmanns Charles Ives – eine Generation vor Barber – ein idealer Vermittler. Jede dieser Miniaturen ist eine poetische Momentaufnahme privater Welten: versonnen grübelnd in „Songs My Mother Taught Me“, cartoonhaft überdreht in dem Lied „Memories“, das die Momente vor dem Beginn einer Opernaufführung veralbert, als hätte der 1954 verstorbene Ives sie als Vorrat für einen Sketch des frühen Jerry Lewis komponiert. Immer aber blieb Hampson ganz der souveräne Berichterstatter-Bariton, der mit tragender Stimme unmittelbar kleine und größere Geschichten erzählen wollte.
Erst recht in den „Four Walt Whitman Songs“ von Kurt Weill, die über Geschehnisse im Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 reflektieren. Hier waren die beiden Amerikaner Gilbert und Hampson unisono lässig und ganz nah am interessant mehrdeutigen Sound von Weills Handschrift. Da und dort funkelte (neben Anklängen an Mahlers ironische Orchesterlieder) noch, leicht angeraut, das zickige Moritaten-Vokabular des „Dreigroschenoper“-Komponisten der späten 1920er-Jahre durch, der vor den Nazis in die USA floh und sich dort angepasst hatte. Andererseits aber auch die broadwaykompatible Leichtigkeit, ein Musical-Aroma, das aus dem konventionellen klassischen Orchester eine Entertainment-Band, aber mit moralisch aufrüttelndem Anspruch machte, mit Hampson als im Wesenskern erschütterter Ich-Erzähler („Beat! Beat! Drums!“) mittendrin.
Pause, durchatmen. Und: Schönberg. Sein als A-cappella-Chor formulierter Aufruf zu „Friede auf Erden“, sein letztes noch so gerade eben tonales Stück, bevor er in seinem 2. Streichquartett mehr und mehr schon „Luft von anderen Planeten fühlte“. Dem 60-stimmigen Philharmonischen Chor aus Prag, von Gilbert energisch geleitet, war durchaus anzuhören, dass sich Schönbergs ins Extreme ausgereizte Harmonien nicht ohne Weiteres wegsingen lassen.
Noch komplexer wurde es im Höhepunkt des Abends: Ives‘ riesige, ebenso gewollt wie gekonnt chaotisch überlaufende 4. Sinfonie. XXL-Besetzung, Chor, reichlich Schlagwerk, zwei Fernorchester-Filialen weit oben in den Rängen für die Extraportion Surround-Erlebnis. In den Noten ein spektakelndes Durcheinander aus Ideen, Zitaten, Rhythmusschickten, Kirchenhymnen, Militärmärschen und Weihnachtsliedern, das elektronische Wabern eines Theremin als Extraspezialeffekt. Alles in allem ein existenzielles Klangerlebnis. Asynchronschwimmen in Klang.
Auf den denkbaren dritten Co-Dirigenten hatte Gilbert, vielleicht eine kleine Frage der Ehre für einen Ex-Chef des New York Philharmonic, verzichtet. Doch auch Gregor A. Mayrhofer hatte am Zweitpult links neben Gilberts Leitstand genügend zu tun, um immer wieder einzelne Orchestergruppen eigenständig auf Kurs zu halten. Und auch Gilbert behielt beim Ignorieren der vielen gleichzeitig passierenden Schichten konsequent die Nerven, um in den meditativen Momenten dieser Musik beim Nachdenken über Sein und Nichtsein Raum zu geben. Ein überwältigendes Chaos, weltenweit ihrer Entstehungszeit voraus, war das Ergebnis, von einer wilden, irren Schönheit getrieben, die ihresgleichen sucht. Musik, die keine unbeantwortbaren Fragen stellt, sondern sich ihren Weg in ihre ganz eigene Welt bahnt. Auch eine Art Hoffnung also.
Das Konzert wird am 27.4., 20 Uhr wiederholt. Evtl. Restkarten.