Lübeck. Spannender und verstörender als jeder Krimi. Helge Schmidt macht Anschlag auf Lübecker „Hafenstraße“ zu berührendem Dokumentartheater.
Von „True Crime“ spricht man, wenn ein reales Verbrechen so vertrackt ist, dass man es gar nicht mehr nennenswert künstlerisch bearbeiten muss – die Realität ist spannender als jeder Kriminalroman. Entsprechend hat der Hamburger Regisseur Helge Schmidt mit seiner Bühnenrecherche „Hafenstraße“ am Theater Lübeck True Crime geschaffen: Das Nachzeichnen eines Brandanschlags auf ein von Asylbewerbern bewohntes Haus ist so absurd, man sitzt mit offenem Mund im Theatersessel und kann kaum glauben, was man hier erfährt.
Im Januar 1996 brannte das Haus in der Lübecker Hafenstraße aus, zehn Menschen starben. Lübeck stand damals in einer Reihe mit zahllosen Angriffen auf Migranten und Asylbewerber in Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen, auch in Lübeck gab es damals Anschläge, unter anderem auf die Synagoge. Entsprechend groß war die Angst vor einem Imageschaden: Der Tourismus im schmucken Hansestädtchen hätte gelitten, würde Lübeck nicht mehr mit mittelalterlicher Altstadt und Marzipan assoziiert worden, sondern mit Feuertoten, wie der damalige SPD-Bürgermeister Michael Bouteiller in einer Videoeinspielung erklärt. Also legte sich die Polizei frühzeitig auf die These fest, dass der Brand von einem Bewohner gelegt worden sei, Indizien, die auf Mecklenburger Neonazis hinwiesen, wurden nicht weiter verfolgt, selbst Geständnisse der Rechtsradikalen wurden ignoriert. Bis heute sind keine Täter verurteilt.
Theaterkritik: Absurd und kaum zu glauben – Still liegt die Lübecker Bucht
Seit Jahren entwickelt Helge Schmidt regelmäßig dokumentarische Theaterarbeiten, in Hamburg vor allem am Lichthof-Theater, darunter das bundesweit gefeierte „Cum-Ex Papers“, oder zuletzt „Wem gehört das Land?“ Im Vergleich zum kleinen Off-Theater hat Lübeck die Mittel eines Stadttheaters mittlerer Größe zur Verfügung, entsprechend kann Schmidt hier großformatiger arbeiten: Die von Jonas Link und Jonas Plümke gedrehten Videos mit Zeitzeugen-Interviews werden auf Jalousien projiziert, die optisch reizvoll auf- und abfahren, außerdem haben Lani Tran-Duc und Anika Marquardt einen Pool auf die Bühne gebaut, in dem es kurz mal bedrohlich brodelt, schnell aber beruhigt sich die Wasseroberfläche. Still und glatt liegt sie da, wie die Ostsee in der Lübecker Bucht. Friedlich. Harmlos.
Jenseits solcher Ausstattungstricks aber bleibt Schmidt bei seinem bewährten Konzept, ein bisschen verfeinert vielleicht: Auf der Bühne stehen Schauspieler, die ihre eigene Position auch thematisieren. „Weder Sie dort drunten noch wir hier oben bilden die Vielfalt der Gesellschaft ab“, spricht Vincenz Türpe ins Publikum. Oft kommen im dokumentarischen Theater die Betroffenen selbst zu Wort, zum Beispiel in den erfolgreichen Stücken des Kollektivs Rimini Protokoll, bei Schmidt aber sind es Leute, die wie das Publikum selbst erst nachvollziehen, was geschehen ist – man schaut also vor allem Menschen beim Denken zu, und dass das nicht trocken wirkt, liegt daran, dass „Hafenstraße“ ein hoch spannendes Sujet ist, True Crime eben.
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Und es liegt daran, dass Schmidt die Betroffenen dann doch noch auf die Bühne holt, im Videobild: Ex-Bürgermeister Bouteiller, Aktivistin Jana Schneider, vor allem die Überlebende Esperanca Bunga. Die junge Frau, die 1996 als kleines Kind ihre Familie in den Flammen verlor, leidet sichtlich darunter, dass das Verbrechen nicht aufgeklärt wurde, dass die Geschichte nicht zu einem Ende kam. Entsprechend kann auch „Hafenstraße“ keinen Schluss finden. „Ich würde nicht klatschen“, meint Bunga. Betroffene Stille im Saal.
Hafenstraße Wieder 7., 13., 21. April, 9. und 24. Mai, Theater Lübeck, Beckergrube 16, Tickets unter 0451/399600, www.theaterluebeck.de