Hamburg. In „Société Anonyme“ wird der Malersaal zum Darkroom: Menschen, die sonst im Verborgenen leben, erzählen in Finsternis aus ihrem Leben.

„Die im Dunkeln sieht man nicht“, heißt es bei Bertolt Brecht. Und das gilt in dieser Vorstellung für alle: Mitwirkende wie Publikum. Es ist stockduster im Theaterraum. Mobiltelefone mussten schon im Foyer des Schauspielhaus-Malersaals komplett ausgestellt, in kleine schwarzen Täschchen versenkt oder ganz abgegeben werden. Kein Display soll aufleuchten, keine Smartwatch blinken. Um den Hals der Zuschauerinnen und Zuschauer hängen Knicklichter, für den Notfall. Denn die Vorstellungen von „Société Anonyme“ finden in absoluter Dunkelheit statt. Und das ist nicht nur ein Inszenierungsgag – das hat seinen Grund.

Wer auf der Bühne etwas zu sagen hat, sucht üblicherweise das Rampenlicht. „Société Anonyme“ tut das Gegenteil, es treten keine Darstellerinnen und Darsteller auf, Stefan Kaegi vom Theaterkollektiv Rimini Protokoll ist an wahren Geschichten interessiert. Wie aber überführt man eine Realität auf die Bühne, die sich bewusst im Schatten abspielt, wie bringt man Menschen vor ein Publikum, die mindestens einen Teil ihrer Persönlichkeit im Verborgenen leben, aus Scham, Angst oder Selbstschutz?

Theater in Finsternis: „Ich kenne mich im Dunkeln aus und passe auf Sie auf“

Man schaltet das Licht aus. Und verlässt sich auf die anderen Sinnesorgane. Nur die Musikerin Gül Pridat ist anfangs sichtbar, begrüßt im Foyer, erklärt die Regeln und nimmt mögliche Ängste: „Ich kenne mich im Dunkeln aus und passe auf Sie auf“, verspricht sie. Gül Pridat ist seit ihrer Kindheit blind.

Hell ist es nur im Foyer des Schauspielhaus-Malersaals. Die blinde Musikerin Gül Pridat erklärt dem Publikum die Regeln von „Société Anonyme“.
Hell ist es nur im Foyer des Schauspielhaus-Malersaals. Die blinde Musikerin Gül Pridat erklärt dem Publikum die Regeln von „Société Anonyme“. © Thomas Aurin | Thomas Aurin

„Meine Ohren sind gewissermaßen meine Augen.“ Und so ist es nun also auch für alle anderen. Mitten im Raum sind Stühle verteilt, ein Bühnenbild ist nicht nötig. Man setzt sich, allein, ein Glöckchen signalisiert den Beginn der Düsternis, dann wird es schwarz. Und die erste Stimme erklingt: „Ich hab im Studium meine erste Psychose gehabt.“ Eine schizophrene Frau berichtet davon, wie es ist, Stimmen zu hören („Die stören unglaublich beim Denken“), wie sie einmal aus dem Fenster sprang, wie sie trotz allem als Anwältin arbeitete. Ihr Tonfall klingt freundlich. Normal. Man überlegt unweigerlich: Wie sieht sie wohl aus? Würde man sich auf diese Person einlassen, wäre da nicht der geschützte Theaterraum? Die Verabredung zwischen dem, der spricht, und dem, der zuhört?

„Société Anonyme“: Menschen erzählen, was sie sonst für sich behalten

In Momenten wirkt „Société Anonyme“ wie eine Beichte. Mal beklemmend, anfangs beunruhigend, verstärkt durch das Soundkonzept von Arvild Baud. Menschen erzählen, was sie sonst für sich behalten. Sind sie anwesend oder kommen ihre Stimmen vom Band? Oder beides...? Es hätte voyeuristische Züge, würde man etwas sehen können. Vor allem aber ist der Abend ungemein konzentriert. Nichts lenkt ab, außer die Produktion will es so. Wenn Gül Pridat Männerparfum versprüht, „Cool Water“ von Davidoff, weil der Scientologe, der zu Wort kommt, so riecht. Oder wenn man unter seinen Stuhl greifen darf, wo eine marrokkanische Süßigkeit wartet.

Der Keks verbindet den Zuhörer mit dem Hafenarbeiter, der illegal in Hamburg lebt. Ein Unsichtbarer im Dunkel des Systems. Kein Pass, kein Arbeitsvertrag, jeden Tag Furcht. Vor Entdeckung, vor Krankheit, vor Abschiebung. Im Hamburger Hafen gibt es 1000 wie ihn. „Ohne uns würde der Hafen nicht funktionieren“, sagt er, der sich Abdul nennt. Und dass er gern in Hamburg bleiben möchte: „Es gibt Bäume und Wasser.“ Ins Licht darf er erst, wenn er heiratet. „Will mich jemand von euch heiraten?“ – einige Zuschauer lachen.

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Ausgerechnet die Dunkelheit wirkt augenöffnend, wirft ein Licht auch in die düsteren Winkel der Seele. Eine Frau erzählt vom eigenen Missbrauch, eine andere aus der Samenbank. Ein Steuerberater berichtet munter vom Rande der Kriminalität, eine etwas unbedarfte Antifaschistin aus dem schwarzen Block, ein junger Mann von sexuellen Ausschweifungen im Darkroom: „Keine Liebe, nur Körper.“ Keine Körper, nur Stimmen ist die Regel im Darkroom Malersaal. Neun Stimmen, neun anonyme Bekenntnisse aus der Stadtgesellschaft, für die das Team mehr als 50 Vorgespräche geführt hat. Der Abend ist für Menschen ab 18 Jahren empfohlen.

Wo sonst am Ende der Theater-„Black“ steht, dimmt hier ganz sanft das Licht auf. Kein Verbeugen, dafür Suppe für alle. Eine schöne Idee. Gesprächsstoff ist schließlich reichlich vorhanden, nach einem Abend, dessen Finsternis in seinen besten Momenten erhellend ist.

„Société Anonyme“, Malersaal im Schauspielhaus, empfohlen ab 18 Jahren, wieder am 14., 15., 16.11. und im Dezember, Karten unterwww.schauspielhaus.de