Hamburg. Sie sangen „Landungsbrücken raus“, aber ihr Blick geht immer aufs große Ganze. Über die wahrhaft grandiosen neuen Songs von Kettcar.
- Album-Vorstellung auf Helgoland: Kettcar präsentiert „Gute Laune ungerecht verteilt“
- Die Hamburger Band ist Musik-Act bei der Helgoline Music-Cruise
- Wie die neuen Songs der Indierockband klingen
Als das Abendblatt vor knapp anderthalb Jahren an einem ziemlich heißen Spätsommertag den Hamburger Songwriter Marcus Wiebusch traf, versprach der ein neues Album von Kettcar. Wird auch Zeit, dachte man damals; das letzte und die nachfolgende EP waren ziemlich lange her. Sieben Jahre nach „Ich vs. wir“ erscheint nun „Gute Laune ungerecht verteilt“. Erster Eindruck: Die 2001 gegründete Band mag keine Kommata. Der zweite: Ist in diesem Fall okay so. Der dritte: „München“ ist ein antirassistischer, impulsiver, so wichtiger und ganz frischer Song – die seeehr alte Rockband Kettcar hat die jüngsten Riffs der Gegenwart.
Wir haben das Album, das am 5. April erscheint und von der Band mit einem Releasekonzert in Helgoland gefeiert wird, nun exzessiv probegehört und uns dabei ein bisschen verliebt. Mindestens in die Idee, dass die gute, schon so lange existierende Rockmusik, man hat sie zuletzt auch mal totgesagt, immer noch, na ja, sagen wir es ruhig: irre relevant ist. Die Kettcar-Texte sind wahrscheinlich so gut wie nie. Auch deswegen, weil sie nicht ganz so konkret sind wie zuletzt, sondern eher was für die Lyrikanalyse im Deutsch-Leistungskurs. Die Welt besser machen mit Songs, darum müsse es doch gehen, hat Wiebusch 2022 gesagt. Gelingt dank der neuen, im übrigen smart produzierten Songs mit den eingängigen Melodien spielerisch leicht. Kettcar sind eine fantastische, gut geölte Band, da stimmt auch das Musikalische mehr denn je.
Der Opener „Auch für mich ist sechste Stunde“ – zweite Single – ist die Nur-beinah-Kapitulation des modernen Menschen, der überinformiert und überfordert in einer schlechten Welt gut sein will: „Mittelmeer, Massengrab, so traurig hier, zynisch da/First-defense-Konferenzen, Zäune bauen, hoch die Grenzen/Kleingeister verachten, Bilder abgestumpft betrachten/Sandstrand, Junge tot, Netflix, Abendbrot“. Es ist wie früher in der Schule, kurz vor eins schwindet die Konzentration, man kann doch gar nicht mehr alles mitbekommen und wenn: Es rauscht halt vorbei. Die Hoffnung: „Ein Bengalo in der Nacht/Bevor die Dunkelheit dich findet“.
Neues Album von Kettcar: Ein Glück, dass es diese Band aus Hamburg gibt
Über „München“, das bittere, immergleiche Lied über Alltagsdiskriminierung und Fremdenhass („Wir beide im Kiosk und die Frau hinterm Tresen sagte:/„Ich meine nicht dich! Hier wird nicht geklaut!/Kannst deinem Freund übersetzen, ich hab ihn im Blick!“) wurde alles gesagt. Über „Doug & Florence“ noch nicht: Hier geht‘s, das weiß man, weil das lyrische Ich die beiden Berufsgruppen explizit anspricht, um Pflegerinnen und Paketzusteller – das passt von der Geschlechterverteilung grob. Darüber hinaus ist das Stück so konsequent unspezifisch, dass es fast herrlich ist. Diese Lines sind so oder so jedes Nachdenken über sie wert: „Du wüsstest auch gern, wie das ist/Einmal frei zu sein/Dann könntest du dir durchaus vorstellen/Mal liberal zu sein“.
„Rügen“ ist der Powerpopsong für ausgepowerte Eltern, die sich das alles ein bisschen anders vorgestellt hätten: „Und wir werden uns erinnern/Erst zusammen und dann allein/Dass wir es so liebten, für sie liebend da zu sein/Doch wir haben es erlebt/Mit unserem sehr schlechten Gewissen/Es ein klein bisschen zu hassen/Alles für sie tun zu müssen“. Das „Alles wird besser“-Mantra kennen sicher viele, diese Desillusionierung aber nicht unbedingt alle: „Und da ist so viel Freude/Aber kein, kein Spaß/Und da ist so viel Freude/Aber kein, kein Spaß/Und da ist so viel Liebe/Für jeden harten Tag, jedes Jahr/Oh, alles wird besser, alles wird besser, alles wird“.
Neues Album „Gute Laune ungerecht verteilt“: Wagner ist nicht für überall
Und dann endlich „Kanye in Bayreuth“. Beste Nummer auf „Gute Laune ungerecht verteilt“, von den Klängen her eh. Ein Lied über Cancel Culture. Das gute Werk vom bösen Urheber trennen oder nicht? Und wenn Trennung, dann unbedingt mobil machen, den Mob? Ist es überhaupt einer? „In einer Bayreuther Sommernacht – den grünen Hügel rauf/Morrissey, Louis C.K. – den grünen Hügel rauf/Am Straßenrand Tausende mit Fackeln in der Faust/Rowling, Picasso – den grünen Hügel rauf
Ein Spalier murmelt leise Worte mit gesenktem Haupt/‘Wir können nicht loslassen – Lauf! Lauf!‘“ Der Song schafft es, am Ende zu einem maximal komplizierten Thema irgendwie Stellung zu beziehen. „Götterdämmerung“ darf man nicht überall hören.
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„Blaue Lagune, 21:45 Uhr“ ist versiertes Storytelling, wie in „Kanye in Bayreuth“ taucht wieder J.K. Rowling auf. Aber nur als Gegenstück, denn schreiben kann halt nicht jeder. Der sozial deklassierte Junge in dieser Geschichte wird kriminell, um der Armut zu entkommen: „Das Herz, das Herz, das Herz, das Herz wird nicht besser/Es wird immer und immer nur härter“. Bei „Wir betraten die Enterprise mit falschen Erwartungen“ ist der Titel fast alles. Weiß ja jeder, dass die von Kettcar sich auf schmissige Songtitel verstehen. Ein Flucht-Song, von allem. Okay.
Kettcar und ihr neues Album: Das ist niemals so passiert
Weiter zu „Einkaufen in Zeiten des Krieges“. Surreal, funny, von heute, der gute Mensch von Ottensen hat die Augen im Supermarkt, wo sonst trifft man (fast) alle, mal weit aufgemacht. Und er sah: „Die Kundin vorn an der Kasse fängt plötzlich lauthals zu schreien an/Im Einkaufswagen Rotkäppchen-Sekt und Salzstangen/„Früher ist man für das Geld mit zwei Tüten hier raus/Und jetzt im Würgegriff des Schweinesystems wieder nach Haus!“/Und die Punks vor dem Ausgang jubeln ihr zu/Und ihre Hunde bellen ihr heiser entgegen“. Was niemals so passiert ist. Aber gute Story. Chef-Texter Wiebusch dann mit dem Slogan der Platte: „Nicht alle in Hamburg wollen zu König der Löwen/Und es ist alles schon gesagt, aber noch nicht von jedem“. Also, eine Hymne auf den Anti-Mainstream, wer immer dort alles so mitschwimmt.
Vielleicht muss man die Geschichte dieser formidablen Band, die zuletzt so lange pausierte, von diesem neuen Kapitel aus erzählen. Nämlich so, dass die Band jetzt erst, nach etlichen tollen Alben, auf dem Höhepunkt ihres Schaffens ist. Weil die Kettcar-Songs so gut geschrieben und arrangiert sind wie noch nie. „Gute Laune ungerecht verteilt“ ist ihr bestes Album, und „Was wir sehen wollten“ einer der besten Popsongs, den die Band bisher gemacht hat. Dabei textlich einfach nur hervorragend; um noch mal auf den Deutschunterricht zurückzukommen, das hier ist Hamburger Schule, kann man pädagogisch mit arbeiten. „Was wir sehen wollten“ ist ein Song über das pure Leben und das schmerzliche Sterben, man muss das erstere feiern, auch wenn das Ende in Sicht ist, in der Klinik, aus der nicht jeder herauskommt. Und der Vergänglichkeit begegnet man am besten mit jublierendem Refrain: „Und der Himmel ist blau/Und das Gras sattes Grün/Und das Leben in all seiner Pracht am Erblühen/Und zum Glück/Haben wir noch ein Zimmer mit Ausblick gekriegt“.
Neues Album von Kettcar: Was ist nur aus der guten alten mentalen Gesundheit geworden?
Auch „Anführer“ spielt in der Heilanstalt. Als wäre die Gegenwart, diese auch graue, anstrengende Angelegenheit, eine Abschussrampe, von der sensible Individuen direkt in den Krankenstand befördert werden. Was ist nur aus der mentalen Gesundheit geworden? Apropos Abschuss: Wie im „Enterprise“-Song ist der Orbit der wahre Fluchtpunkt: „Ich bin ab und an ein Kosmonaut/Dann wird’s so was von eng in der Kapsel/Ich wirbel verloren durch die Stratosphäre/Hinein in die ewige Leere/Und wenn die Triebwerke zünden/Mein Kopf knallt von Wand zu Wand/Niemand wird jemals einsamer sein/Die Erde unter mir und allein“.
„Zurück“ ist ein Liebeslied mit Akustikgitarre: „Und dann hoffen, dass der Morgen nicht kommt/Alles fortreißt, alles mitnimmt/Ich bin mehr, wenn ich hier bin/Mehr, wenn ich hier bei dir bin“. Die geschickt ins Werk gesetzte Selbstbespiegelung „Ein Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter)“. Schon wieder so ein episch langer Songtitel. Der junge Marcus Wiebusch urteilt über den alten unter anderem wie folgt: „Manchmal bist du etwas klug, dann hältst du dich gleich für sehr klug/Und dann diese Gabe, sich wichtiger zu nehmen/Als man sich fühlt/Wo bleibt denn jetzt das Feuer/Oh ja, alles nur noch teuer/Und wenn du dann mal einen guten Song schreibst/Sind das doch nur noch Splitter/Und das macht es ja so bitter“.
Mann, es geht um Gefühle und Aufrichtigkeit, das Sich-Eingestehen von Schwäche (und ganz direkt um eine Stilkritik des eigenen beruflichen Tuns). Wie kann man sich davon als Hörerin oder Hörer nicht angesprochen fühlen, sich damit nicht identifizieren? „In deinem gespielten Optimismus, den verschollenen Idealen/In jedem grauen Haar, in deinem Eigenheimsparplan/Den Kitsch in deinen Texten, deinen Falten im Gesicht/Seh ich, du hast immer noch die gleiche Angst wie ich“, singt Wiebusch zu Wiebusch. Das geht ganz tief rein. Aber Kitsch? Kaum.
Kettcar spielt am 27. April in der Sporthalle und am 11. August auf dem Lüneburger Kultursommer