Hamburg. Von Schmäh bis Schubidu: André Hellers Reflektor-Festival in der Elbphilharmonie endete mit einem „Die Besten aus Wien“-Finale.

Die jüngere Musikgeschichte dieser Stadt muss – vorausgesetzt, man nimmt drei Handvoll talentierter Kultur-Touristen aus Wien ihren Schmäh ab – dramatisch umgeschrieben werden.

Dass Freddy Quinn, der Leichtmatrose der Herzen, vor mehr als 90 Jahren nicht mitten auf der Reeperbahn, sondern im österreichischen Niederfladnitz zur Welt kam, haben viele an der Elbe jahrzehntelang durchaus erfolgreich verdrängt. Aber dass sowohl Udo Lindenbergs „Ich lieb dich überhaupt nicht mehr“ als auch Hans Albers‘ „La Paloma“ keine eindeutigen, ewigen Hamburger Klassiker sind, sondern im Inneren ihrer gebrochenen Herzen echte, waschechte, durch und durch weanerische Wienerlieder? Dass es also eigentlich „I steh überhaupt ned mehr auf di“ und „Auf die Weana, ohe“ heißen müsste? Dass man Udos Näseln und Albers‘ Schluchzen prima mit einer amtlichen Schrammel-Kapelle begleiten kann?

Tja. Da müssen wir hier oben jetzt alle gemeinsam durch. So etwas lässt sich nicht mehr „un-hören“. Das „Die Besten aus Wien“-Finale von André Hellers Reflektor-Festival in der Elbphilharmonie vollzog mit diesen liebevoll gemopsten Coverversionen eine putzig irre kulturelle Aneignung, die aber ausnahmsweise, man kann ja auch gönnen können, keine moralisierenden Disziplinarmaßnahmen nach sich ziehen muss.

Elbphilharmonie: Kann man Udo Lindenberg verschrammeln? Man kann

Schön war’s oft, sonderbar war’s meistens, speziell war’s immer, die vergangene Woche mit Auftritten von Solitären aus allen Himmels- und vielen Stilrichtungen, die der Spektakel-Hersteller Heller zur Begrüßung vor der allerletzten Runde als „Serie von Unglaublichkeiten“ bezeichnete. Der letzte Abend vor dem Zurück zum klassischeren Elbphilharmonie-Normalbetrieb sollte eine Art Auswärts-Heimspiel-Klassentreffen werden, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit, dort tatsächlich jede beste, reisefähige Wiener Kneipen- und Clubgröße zu präsentieren.

Es kam also eine lässig dahingeschluderte, mit viel Selbstironie und wenig Leistungsdruck angereicherte Plauderei zusammen, bei der immer wieder jemand für ein Liedl oder zwei aus dem Backstage-Bereich vorbeischlenderte und sich danach im Bühnenmobiliar parkte, um sich von dort aus einen schönen Abend mit den Tresen-Verwandten zu machen. Untertitel oder womöglich sogar Dialekt-Simultandolmetschen wäre mitunter sachdienlich gewesen, aber andererseits: In Wien wie im Rest von Österreich muss und kann man auch nicht immer alles ganz genau verstehen.

Sensations-Comeback als Live-Sänger nach gut vier Jahrzehnten Bühnenabstinenz: André Heller trat gemeinsam mit Voodoo Jürgens auf.
Sensations-Comeback als Live-Sänger nach gut vier Jahrzehnten Bühnenabstinenz: André Heller trat gemeinsam mit Voodoo Jürgens auf. © Daniel Dittus | Daniel Dittus

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Mittig platzierter Zeremonienmeister ohne näher erkennbare Autoritätsfolgen war Ernst Molden, in Wien wie alle Eingeflogenen schon seit immer oberhalb von weltberühmt. Mit Beisl-Blues und sanftem Sarkasmus fragte er sich zur Einstimmung „Wo san meine Freind, wann die Sonn net scheint?“ Bereits damit war klar, dass dieses traditionsreiche Kulturgut tageslichtallergisch ist und gern einen gewissen Heurigen-Pegel (vom Nino aus Wien zu „Himbeersaft“ umetikettiert) als Grundvoraussetzung mitnimmt, um nett grantelnd in Fahrt gegen sich und den Rest der Welt zu kommen.

Marco Michael Wanda, Sänger der österreichischen Band Wanda, kam solo und nur mit einer Gitarre.
Marco Michael Wanda, Sänger der österreichischen Band Wanda, kam solo und nur mit einer Gitarre. © Daniel Dittus | Daniel Dittus

Das „Neue Wiener Concert Schrammeln“-Quartett schubberte sich also sachertortenzuckrig durch die nur ganz leicht schwankende Dreivierteltakt-Melancholie, und Tini Kainrath, die kaum übertrieben als „Großherzogin des Wiener Belcanto“ anmoderiert wurde, konnte auch allerliebst jodeln, ohne dass es plump volkstümelnd geworden wäre. Die Arbeitsplatzbeschreibung „Hohepriester der Kaputtheitsbohème“ an dieser Textstelle ist leider nur geleast. Aber mit jeder Faser seines gut verlebten Schlaghosenanzugs, durch und durch, entsprach ihr der erste große Stargast, Voodoo Jürgens. Für ihn und Arm in Arm mit ihm beendete dann auch Heller seine jahrzehntelange Live-Bühnenabstinenz und gönnte sich mit großem Vergnügen das erste von so einigen Liedern. In kunstsinnigeren Wiener Kaffeehäusern wäre dieses generationsübergreifende Comeback wohl Wochengespräch geworden, in Hamburg wurde es dankbarst registriert und beklatscht.

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Die All-Star-Runde wurde größer und buntehundiger: Marco Michael Wanda, zur Abwechslung ohne seine gleichnamige Austropop-Abräumer-Band, erinnerte mit zwei gallebitteren Nachkriegsliedern daran, wie sehr die Operettenrepublik Österreich nach wie vor noch nicht mit seinen Nazis fertig ist. Der Nino aus Wien schmähte sich mit verpeiltem Welpencharme durch Hans Albers, Molden verschrammelte Uns Udo. Die Schauspielerin Ursula Strauss erinnerte an eine in ganz Wien legendäre Gattenmörderin, so viel morbider Spaß muss sein.

„Es war kein schlechter Tag“: Festival-Kurator André Heller beim Schlussapplaus auf der Bühne des Großen Saals der Elbphilharmonie.
„Es war kein schlechter Tag“: Festival-Kurator André Heller beim Schlussapplaus auf der Bühne des Großen Saals der Elbphilharmonie. © Daniel Dittus | Daniel Dittus

Schubert-Lieder hatte die Kulturtouristen-Kleingruppe nicht im Gepäck, aber einen legitimen Nachfahren, den Danzer Georg aus den seligen 1980ern, mit der Trennungs-Ballade „Ruaf mi ned au“, als Duett von Molden und der wirklich eigenwillig beeindruckenden Singer-Songwriterin Anna Mabo. Je später der Abend, desto mehr sang auch der Heller, Eigenes und Eigensinniges gleichermaßen. Und weil man, da hilft weder Wein noch Greinen, so alt nicht wieder zusammenkommen dürfte, musste es am Ende ein letzter, kollektiv geschmetterter Einspruch gegen die Launen des Schicksals sein, ein Bob-Dylan-Klassiker, der abendgemäß zu „Für immer jung“ eingewienert wurde. Die letzten Worte dieses Feier-Abends hatte, ja bitte, der gerade 77 gewordene André Heller: „Schreiben Sie sich heute in Ihr Tagebuch: Es war kein schlechter Tag.“

Das „Die Besten aus Wien“-Konzert steht kostenlos als Video-Stream in der Elbphilharmonie-Mediathek zur Verfügung.